Die Liebe als Macht über unser Leben

Diogenes Lampe, Samstag, 31.12.2022, 17:17 (vor 454 Tagen) @ ebbes3320 Views
bearbeitet von Diogenes Lampe, Samstag, 31.12.2022, 17:22

Mich würde interessieren, glaubt ihr wir haben die Macht über unser Leben und unsere Entscheidungen haben einen Einfluss auf unser Leben oder nicht?<

Lieber ebbes,

Wie Sie sehen, ist ihre Frage hier von großem Interesse. Ich lasse mal den ganzen Einstein-Theorie-Kram weg, denn hier stimme ich mit denen überein, welche in der Lichtgeschwindigkeit keine Konstante sehen und deshalb seine Relativitätstheorie als eine wirklich äußerst relative betrachten.

Ihre Frage ist zweischneidig. Sie berührt einerseits die Metaphysik und anderseits die Frage der Macht, die eine Frage der Kontrolle bzw. der Selbstkontrolle, also auch des Willens ist. In der Metaphysik haben wir es mit dem Unbestimmten zu tun; d.h. mit Fragen wie: "Woher komme ich? Wohin gehe ich? Was ist der Mensch? Was soll der Mensch? Was ist Leben? Was ist Tod? Was ist Gott? Was ist Geist? Was ist Seele? usw... Keine lässt sich eindeutig beantworten. In der Machtfrage haben wir es dagegen mit dem Bestimmten zu tun. In der Metaphysik begegnen wir dem Irrationalen, und die Fragen, die sie aufwirft, lassen sich ohne Spekulationen nicht beantworten. Die kommen wiederum nicht ohne die Frage nach dem Sinn- und diese nicht ohne die nach dem Geist an sich und schließlich dem eigenen Geist und seine Struktur aus.

In der Physik, also in der physischen, der gegenständlichen Welt begegnen wir dem Rationalen, d.h. dem Verstand und der Vernunft, auf der Basis von Ursache und Wirkung, Grund und Folge und somit aufgrund unserer Erfahrungen, die die Frage nach dem bestimmten Seinsgrund und dem Erkenntnisgrund aufwirft, womit wir bei Raum und Zeit und der Materie, also der Erscheinung wären. Da nun aber alles Physische im Metaphysischen seine Wurzel hat - was wir bemerken, wenn wir immer wieder bis zum Ende des gerade noch Erkennbaren nach dem Grund eines Grundes fragen -, können wir Seinsgrund und Erkenntnisgrund nicht absolut-, sondern bestenfalls nur zureichend im Möglichkeits-Rahmen unserer eigenen Vorstellungen erkennen. D.h., wir können Gründe finden, "warum etwas eher existiert als nicht existiert und weshalb etwas gerade so als in einer anderen Weise existiert." Aber nicht den letzten Grund, da wir uns mit dem Geist immer nur in Raum und Zeit befinden und bewegen können; also in der Welt der Erscheinungen. Und so gibt es in der Philosophie den Satz vom zureichenden Grund, der da lautet: "Nichts geschieht ohne Grund." Das ist es, worauf unser Erkenntniswille am Ende stößt und was wir noch wirklich wissen können. Siehe auch Leibniz und seine Theodizee (sein Buch über die Rechtfertigung Gottes).

Dieser Satz vom zureichenden Grunde ist die Wurzel aller Arten von Relationen. Man kann aber, wie es schließlich Schopenhauer tat, diese Wurzel zur weiteren Verdeutlichung als eine Vierfache erkennen und somit den Satz vom Grunde in vier Sätze teilen:

1. den Satz vom zureichenden Grund des Werdens - das ist die physikalische Ebene der Naturwissenschaften, in der das Prinzip von Ursache und Wirkung auftritt. Damit etwas wird, braucht es eine Ursache, welche auf es wirkt. Hier wirkt also die Formel: Zeit + Raum = Materie = Kausalität. Das subjektive Korrelat ist der Verstand.

2. den Satz vom zureichenden Grund des Erkennens - er umfasst die Begriffe als Erzeugnisse der Vernunft, berührt also das Sprachproblem. Abstraktes Denken vollzieht sich in Begriffen und operiert mit Urteilen, die, wenn sie wahr sind, Erkenntnisse ausdrücken. Das subjektive Korrelat ist die Vernunft.

3. Den Satz vom zureichenden Grund des Seins - hier werden die Vorstellungen von Raum und Zeit berührt - zwischen den Teilen in Raum und Zeit findet sich das Verhältnis von Lage (räumlich) und Folge (zeitlich). Ihre Verhältnismäßigkeit bildet die Grundlage allen Seins. Das subjektive Korrelat ist die reine Sinnlichkeit.

4. Den Satz vom zureichenden Grund des Handelns - er bezieht sich auf das Subjekt des Wollens. Der Mensch betrachtet und erlebt sich als wollendes Subjekt und was der Wille in ihm will, als etwas Objektives. Das wird von einer inneren Kausalität bestimmt. Was im 1. Satz als Ursache auftritt, ist hier das Motiv, dem als Wirkung die Handlung folgt. Das subjektive Korrelat ist der innere Sinn bzw. das Selbstbewusstsein.

Ihre Frage aber geht noch weiter, denn sie impliziert die Frage nach der Freiheit des Willens, die sich in zwei Hälften teilt:

1. Ist der Wille an sich frei?

2. Ist der individuelle - also mein Wille frei?

Beide Fragen beantworten sich in Ihrer Machtfrage eigentlich von selbst. Macht ist unser individueller Wille zur Kontrolle. Die Macht über unser eigenes Leben zu gewinnen, bedeutet also, die Kontrolle über unser eigenes Leben wie über das Leben jener unserer Mitmenschen ausüben zu können, die im weitesten Sinne Einfluss auf uns haben. Man kann das sehr deutlich an der Entwicklung unserer Kinder beobachten, wenn sie zu ihrem Selbsterhalt instinktiv ihren Willen durchsetzen, indem sie über ihre emotionalen Ausdrucksmöglichkeiten die Eltern "manipulieren". Die Macht über andere Leben zu gewinnen, bedeutet als Umkehrung ebenso, die Kontrolle über sich und Andere ausüben zu können. Die universale Macht bedeutet, die Welt aus den Angeln heben zu können oder sie darin zu belassen; in jedem Fall aber, sich als quasi Nichtbetroffene/r auf einen archimedischen Punkt außerhalb der Welt setzen zu wollen, was jedoch ein Trugschluss unserer Vorstellung ist, da es einen solchen Punkt nur innerhalb dieser Welt von Raum, Zeit und Kausalität geben könnte. Dieser Angel-Punkt müsste sich demnach weder innerhalb noch außerhalb unserer Welt befinden, was sich nun mal nicht denken lässt, da schon allein der Begriff "Punkt" eine Art Ortsangabe wäre, egal, wo sich dieser Ort konkret befände.

Nun müsste man fragen, ob die Entscheidungen, die wir treffen, uns selbst oder andere oder beide betreffen, wenn wir nach dem Einfluss derselben fragen. Ich denke, jede Entscheidung, die wir als bloße und letztlich irrationale Erscheinungen des Willens zu leben treffen, hat Einfluss auf uns wie auf andere. Wie groß dieser Einfluss letztlich ist, hängt hier von den subjektiven wie objektiven Voraussetzungen ab, unter denen wir unsere Entscheidungen und die anderen ihre Entscheidungen treffen. Also davon, was diese Voraussetzungen - wozu jedes Mal Verstand, Vernunft, Sinnlichkeit und Selbstbewusstsein auf uns selbst und zugleich auf die anderen bezogen gehören - bewirken können. D.h. auch, in wieweit wir die Kontrolle über uns selbst ausüben können, wenn andere die Kontrolle auf uns ausüben wollen, um unsere Eigenkontrolle zu ihren Gunsten zu relativieren. All das lässt sich immer nur sehr relativ mit dem Faktor X berechnen Und da sind wir dann nicht nur bei der Relativität der subjektiven wie objektiven Kontrollwirkungen, sondern auch beim notwendigen Grad dieser Kontrolle, der wiederum vom Motiv des Eigenwillens wie Fremdwillens abhängt, diese Kontrolle - diese Macht - ausüben zu wollen und vom Glauben, es zu können. Und dieser notwendige Grad hängt wiederum damit zusammen, über welchen Grad an Verstand, Vernunft, Sinnlichkeit und Selbstbewusstsein wir verfügen.

Wie aber erlangen wir den höchsten Grad an Macht über unser Leben, unsere Entscheidungen und unseren Einfluss? Durch Selbsterkenntnis und unser nicht von ihr zu trennendes Mitgefühl, d.h., die Fähigkeit, uns in den anderen Menschen und seine Handlungsmotive aufgrund unserer eigenen hinein versetzen zu können. Nur durch diese Art der mitfühlenden Kontrolle über den eigenen Verstand als den des anderen, der eigenen Vernunft als der des anderen, der eigenen Sinnlichkeit als der des anderen und des eigenen Selbstbewusstseins als das des anderen ist auch die eigene Selbstkontrolle möglich; die Macht über sich selbst, die in der Goldenen Regel ihren höchsten und klarsten Ausdruck findet: "Tue niemandem etwas an, von dem du nicht willst, dass man es dir antut."

Diese Spiegelung ist die Voraussetzung für eine wirkliche Macht über andere, die nicht - wie die Macht der letztlich immer nur machtpolitisch stümperhaften Herrscher in der Welt - vergeht, sobald der Tod uns von dieser Erscheinungswelt wieder scheidet. Das Mitgefühl ist keine Gutmenschenmoral. Es ist die verständige, vernünftige, sinnliche und selbstbewusste Kontrolle, die wir benötigen, um unser eigenes Leben nach unserem eigenen Willen gemäß unseres Verstandes, unserer Vernunft, unserer Sinnlichkeit und unseres Selbstbewusstseins führen zu können. Diese Kontrolle vollständig zu erlangen, ist zwar nur Heiligen vorbehalten, doch sie ist und bleibt der eigentliche Grund unserer diesseitigen törichten Machtkämpfe, an denen wir in unserem geistigen wie physischem Leben scheitern müssen. Wir müssen aber nicht an unserem irrationalen Wesenskern, der die Liebe ist, scheitern. Denn der Liebe geht es stets um das eigene Wohl als auch um das des Mitmenschen. Es geht ihr nie um dessen Weh. Deshalb ist auch der wahre Kern aller Religionen auf ihre eigene kulturelle Weise nicht irgend ein Gott oder Götter, sondern die Gerechtigkeit, die in der Goldenen Regel als der einzigen natürlichen Moral zum Ausdruck kommt.

In diesem Sinne wünsche ich allen hier im Gelben ein gesundes Neues Jahr, in dem wohl gerade unsere Liebe vor großen Herausforderungen stehen wird.


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