Emporfinden!

Talleyrand ⌂, Samstag, 16.01.2021, 14:23 (vor 1193 Tagen) @ Weiner2265 Views

Geschichte (die man von der Bewahrung der Tradition unterscheiden muss) ist immer eine Konstruktion.

Es gibt sehr viele Geschichten und die eine "Geschichte." Jemand könnte ein grosses Buch führen, in dem alle einzelnen Lebensgeschichten aller Menschen einer Zeit, oder aller Menschen, die jemals gelebt haben, aus der Sicht des jeweiligen Menschen, erzählt werden. Das Buch des Lebens. Ein sehr umfangreiches Buch.
Historiker wollen EINE Geschichte über alle diese Geschichten stülpen, als Quintessenz, weil es ja auch die EINE Wahrheit gibt, geben muss.
Der Literat läßt 1000 Blumen blühen, der Historiker verkocht sie zu einem Sud, aus dem er dann die Begriffe destilliert, aus denen er die EINE Geschichte fabriziert.

Auch meine Geschichtsschreibung und -analyse ist eine Konstruktion. Mein Baumaterial sind die Zyklen. Ich habe sie extrahiert, und nun kann ich nicht nur eine Konstruktion in die Vergangenheit hinein machen sondern auch in die Zukunft.

Ich bin neugierig, davon zu lesen.

2. Für Deine Bemerkungen zu Jünger danke ich sehr, sowas weiß ich zu schätzen! Den Seitenarm des Putschversuches 1944 in Paris kannte ich zwar, nicht aber die Schritte bzw. die Rolle Jüngers, die Du schilderst.

Ich habe gerade einen historischen Roman fertig (und suche einen Verlag), in dem auch der Kampf der Heeresoffiziere gegen die Parteifunktionäre (Gestapo, SS) in Paris beschrieben wird. Werde wohl demnächst im Selbstverlag veröffentlichen, weil den Verlagen die Sache zu heikel ist (Der Roman könnte den Eindruck erwecken, dass grössere Teile des Offizierskorps keine Nazis waren. Das passt nicht zur heutigen Sichtweise, ist 'politisch nicht korrekt.')

In Deine Aufzählung der 'Staats'-Modelle, die Jünger in die Zukunft denkt, könnte man m.E. auch noch "Heliopolis" aufnehmen.

Ja, richtig. Wobei 'Eumeswil' in manchem eine Wiederaufnahme oder Neuinterpretation von 'Heliopolis' darstellt.

...dass die übrigen Organe des Staates (bis hinab zu den untersten Beamten und Bürgern) nicht von der rohen Gewalt geführt werden wollen. Sie verlangen nach einem 'Nimbus', nach einer 'Aura', nach einer 'höheren Macht'

'Wiederkehr der Religion' oder wird es eine pseudoreligiöse Instantlösung geben? Ein simples Pulver, das man in Wasser auflöst und weltweit einsetzen kann, nach dem Vorbild von Coca-Cola und Nescafe. Das ist Jüngers Vision in Eumeswil: Verflachung, Nivellierung, keine Religionen mehr, stattdessen hysterische Moralisierungen, gelenkt von den Agenturen der Meinungslenkung. Nicht einmal zu Ideologien mit längerer Halbwertzeit, wie dem Sozialismus, reicht es mehr.

Mich beeindruckt an Meister Eckehart, dass er total nüchtern und stets im realen Alltag verankert bleibt. Es gibt nur zwei oder drei Stellen in seinem Werk, die man auf eine persönliche 'Erfahrung der Ergriffenheit' deuten könnte. Das ist ein erster Hinweis darauf, dass für den Weg zum Sprungbrett die mystische Schau offenbar nicht wesentlich ist.

Ich empfinde (kommt das Wort nicht von Eckhart? emporfinden!) gegenüber Mystagogen wie Eckhart eine scheue Faszination und Ehrfurcht, ohne ihn ganz zu verstehen (verstehen zu wollen.) Letztlich bin ich Psychologe und Geschichtenerzähler, und nicht am Jenseits orientiert, sondern am Diesseits. Mit Goethe:
"Mit indischen Gänsen ist's nicht gleicherlei; sie zu erdulden ist unmöglich:
Die häßlichen sie schreien unerträglich." (Chinesisch-Deutsche Jahres- und Tageszeiten IV)

Wer dabei sein will, muß den Asbestanzug (Heliopolis) anziehen. Die aber nicht mitmachen, werden nach Bedarf und Laune ausgeplündert, erschlagen und in den Straßen des Parsenviertels (HP) liegen gelassen. Futter für Ratten, Schmeißfliegen und Schleimpilze.

Gute Prosa! Ich vermute aber, dass die neue Macht weitaus subtilere Mittel verwenden wird. Die Lenkung der Meinungen wird einen Grad der Perfektion erreichen, der einen harmonischen Gesamteindruck erzeugen wird. Wenn man sich einmal vor Augen führt, dass bereits jetzt die Daten, die Google über jeden Einzelnen sammelt, alle psychologischen Erkenntnisse aller Zeiten übertreffen, sowohl was die verschiedenen auftretenden Psychogramme als auch ihre statistische Häufigkeit anbetrifft... Vermutlich kann man Amokläufer und jegliche anderen Abweichler bereits jetzt im Vorfeld erkennen, an ihrem Suchverhalten.

Ich bin der Auffassung, dass die Menschheit sich den größten Teil ihres ganzen Gesellschafts-, Staats- und Weltgeschichtszirkus sparen könnte. Der ist - ich wiederhole mich! - nur ein Spiegel seelischer Zustände und Konflikte sowie biologischer und intellektueller Anlagen, die der Mensch hat. Die meisten, dieser 'inneren Unstimmigkeiten und Unfähigkeiten' ließen sich auf viel einfachere Weise lösen als durch Schaukämpfe dressierter Bären in der Manege.

Falls Du damit auf Schau und Sprung abzielst, das wäre vermutlich ein zu anspruchsvolles Programm. Es wird viel simpler ablaufen, beziehungsweise läuft bereits jetzt so: viele japanische Jugendliche haben den Wettkampf um soziale Anerkennung, Beruf und Sexpartner, aufgegeben und ziehen sich in die imaginären Welten der Computerspiele zurück. Ich stelle mir Containersiedlungen vor, die wie Bienenstöcke die nicht mehr gebrauchten Drohnen in kleinen Waben einschließen, wo sie, mit Nahrung, Wasser und Niederspannung versorgt, zeitlebens dahindämmern dürfen. Früher Opiumhöhlen, heute die virtuelle Welt der Spiele.
Aus ökologischer Hinsicht ein grosser Schritt nach vorne. Freilich steigt die Gefahr, dass ein Machthaber aus Ersparnisgründen den Drohnen, die politisch keinerlei Rolle spielen, den Saft abdreht.

Gruss
Talleyrand

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https://talleyrandssudelbuch.art.blog


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