aquae confluentes

Weiner, Freitag, 15.01.2021, 11:16 (vor 1194 Tagen) @ Talleyrand2381 Views

Hallo Talley.!

Ich danke Dir herzlich für Deine ausführliche Antwort; steige mit meiner eigenen am Ende Deines Beitrages ein:

Grundsätzlich: Die Diskussion mäandert.
Zum Einen erkenne ich einen Strömungsarm "Reform des Staates / Verhältnis des Einzelnen zum Staat."
Dann "große Wellen/Zyklen / erwartete Ankunft des Präskripors / Katechons
Dann "mystische Schau / Sprung in den Abgrund."

1. Zuerst zur Geschichte. Da gibt es ein Mißverständnis: wenn ich schrieb, dass Begriffe aus der Religion nichts in der Geschichte zu suchen hätten, dann meinte ich, dass sie nichts in der Geschichtsschreibung bzw. in der historischen Analyse zu suchen hätten. Politiker und andere 'Figuren' mögen gern die Bibel hochhalten (als Trump nach der Kapitol-Pseudobesetzung zur Ruhe aufrief, war die First Lady nicht dabei - und das war rituell gesehen ein großer Fehler), auch mag manch Volk entsprechende Erwartungen haben. Aber wir kommen beim Durchleuchten der Geschichte mit solchen begrifflichen Funzeln nicht weiter.

Geschichte (die man von der Bewahrung der Tradition unterscheiden muss) ist immer eine Konstruktion. Sie ist vergleichbar der kriminalistischen Untersuchung, der Aufklärung eines Falles. Und es kann nichts re-konstruiert werden, weil man dabei schon unterstellt, dass es eine Wahrheit gäbe. Doch die gibt es nicht (mehr). Es können sich dann später die Geschworenen zusammensetzen und ein Urteil fällen. Es ist aber nur ihr eigenes Urteil. Mehr ist nicht drin. Nur in seltenen Fällen gibt es ein Geständnis. Doch auch das Geständnis ist nur bezogen auf das Rechtssystem und die von ihm geforderte Faktizität. Die ganzen Wege und Verflechtungen und Triebe, die zur entsprechenden 'Tat' geführt haben - und die zum geschichtlichen Geschehen dazugehören, es ja erst hervorgebracht haben - dass alles wird im Geständnis trotzdem nicht offenbar. Über dem Geständnis wie über der Geschichte liegt Dunkelheit.

Auch meine Geschichtsschreibung und -analyse ist eine Konstruktion. Mein Baumaterial sind die Zyklen. Ich habe sie extrahiert, und nun kann ich nicht nur eine Konstruktion in die Vergangenheit hinein machen sondern auch in die Zukunft. Ich brauche dann keine Geschworenen und kein Geständnis. Meine Konstruktion bewährt sich im Eintreffen einer Prognose (bitte mich nicht über deren Problematik und Fehlerquellen aufklären zu wollen, denn mit denen schlage ich mich sowieso tagtäglich herum).

Zu einer theoretisch möglichen Zentralfigur in Bezug auf unsere politische Zukunft (Proskriptor, Imperator u.ä.) nehme ich am besten in einem eigenen Beitrag nochmals Stellung, sobald sich Gelegenheit ergibt und ich Zeit habe. Das ist hiermit versprochen. Das Problem ist, dass eine einzelne Figur nicht alle Schattierungen des hinter ihr stehenden abstrakten Prinzips verkörpern kann. Das Kaisertum der Antike umfasst so ekelhafte Figuren wie etwa Caligula aber auch respektable wie Marc Aurel. Richtig ist aber, dass es Türöffner in die neue Epoche hinein geben muss, und das waren damals - die Reihe beginnt mit Sulla - vor allem Cäsar und Octavian.


2. Für Deine Bemerkungen zu Jünger danke ich sehr, sowas weiß ich zu schätzen! Den Seitenarm des Putschversuches 1944 in Paris kannte ich zwar, nicht aber die Schritte bzw. die Rolle Jüngers, die Du schilderst. "Chronist" ist in gewisser Weise auch die Rolle Venators bei der Jagdexpedition. Neben der Traditionsbewahrung (s.o.) und der geschichtlichen Analyse (s.o.) ist die Betätigung als Chronist die dritte denkbare (aufrechte ...) Haltung der Geschichte gegenüber. Auch hier erntet man meistens keinen Dank (siehe im Fall Jüngers die Geiselfrage). Der Zeuge im Prozess steht eben im Kreuzfeuer.

In Deine Aufzählung der 'Staats'-Modelle, die Jünger in die Zukunft denkt, könnte man m.E. auch noch "Heliopolis" aufnehmen. Im Grunde sind es ja keine Vorschläge für die Zukunft (mit 'Anarchen' kann man keinen Staat bauen; letzterer ist vielmehr Vorausetzung für Erstere). An "Heliopolis" empfinde ich als Vorteil, dass sehr realistische Züge aufscheinen. Eine zentrale Frage (der Zukunft) wird sein: hat tatsächlich der Fürst/Regent (Terminologie von Heliopolis) die Macht und lässt das Militär (und seine anderen Mitarbeiter) an ihr teilhaben? Oder liegt die Macht beim Militär? In Kaiserreich und Spätantike hat sich die Macht mehr und mehr zum Militär hin verschoben, und auch bei der Öffnung der Tür (s.o.) in die neue Epoche ging es nicht ohne brutale Eingriffe. Auf der anderen Seite ist es so (auch empirisch gesehen), dass die übrigen Organe des Staates (bis hinab zu den untersten Beamten und Bürgern) nicht von der rohen Gewalt geführt werden wollen. Sie verlangen nach einem 'Nimbus', nach einer 'Aura', nach einer 'höheren Macht' (der Regent ist auf dem Meer, rechnet selbst mit Höherem, mit einer 'Wiederkehr' wie der Mahdi). Die Lösung in Rom vor 2000 Jahren war eigentlich vorbildlich, weil ein mehrfaches Scharnier hergestellt wurde, das alle notwendigen Funktionskreise bündelte: Ocativan hatte das Imperium (Militärgewalt), war Princeps Senatus (zur Wahrung der republikanischen Form) und zugleich Pontifex Maximus zu den Göttern ...

Damit sind wir bei der 'Reform des Staates' und der Stellung des Einzelnen im Staat. Vorweg: es gibt nicht zu reformieren und nichts zu tun - die Dinge werden geschehen. Das Einzige, was man tun kann: sich 'richtig' zu positionieren (wofür es innere und äußere Maßstäbe gibt).

Du sprichst hier die Sprache des Sozialingenieurs, der, nach Nietzsche, künstlich wiederherstellen will, was verlorengegangen ist. Nietzsche hat das als Hauptkennzeichen des Nihilismus genannt. Man könnte es auch Zynismus der Macht nennen. Die Ingenieure der Machtausübung, das sind bei Jünger die "Mauretanier." Das sind die Feinde des kreativen und gläubig-naiven Menschen.

Es dreht sich nicht um ein Wiederherstellen sondern allein ums Überleben. Es ist alles schon den Bach runter. Jetzt stehen wir im Trockenen und müssen nach Wasser bohren, damit wir nicht verdursten. Andere Hochkulturen konnten dem gärtnernden Weltgeist mißlingen (wie beispielsweise die arabische) oder eben sterben (meist an Altersschwäche). Im Augenblick hat er nur noch eine Pflanze, und der Erdacker befindet sich in einem etwas kritischen Zustand.

In dem, was ansteht, werden alle gebraucht; und es wird immer noch alle Arten von Menschen geben - die Ingenieure der Macht ebenso wie die kreativen und die gläubig-naiven wie ich. Ich hab's vielleicht schon mal geschrieben: das Pantheon, das Kolosseum, die Hagia Sophia sind absolut kreative Leistungen (bautechnisch, architektonisch), zu ihrem Bau waren aber auch 'Mauretanier' notwendig, und man hat sie für die naiv Gläubigen gebaut.

Dieses weinerliche Gerede über den Untergang des Adels und der Kultur und der Religion ... und ... und ... geht mir auf den Geist. Ist halt so. Man kann nicht alles zu jedem Zeitpunkt haben. Mal kommen zwei Keimblätter aus dem Boden, mal sprießt es, mal blüht es, mal fruchtet es, mal steht der Baum kalt im Wind. Die letzte Epoche im Hochkulturzyklus ist insofern die interessanteste, als sie die drei ihr vorausgegangen Epochen in sich bergen kann. Beethovens Symphonien wurden teils begeistert aufgenommen, teils entgeistert abgelehnt. Die heutigen Einspielungen dieser Orchsterwerke sind so perfekt, dass Beethoven weinen würde, wenn er sie hören (!) könnte. Aber es gibt halt keinen Beethoven mehr. Für uns kommt hinzu, dass wir, wiewohl wir so viele nichteuropäische Kulturen zerstört haben und noch laufend zerstören, uns dennoch um ihre Bewahrung kümmern und weiter kümmern werden. Das mag nach Archivarismus ausschauen - ist es aber nicht nur. Neulich las ich eine 'amerikanische' Dissertation über eine tibetanische Heilige, und da muß ich, von der Qualität fast erschlagen, hinterher mutmaßen, dass es in ganz Tibet und Dharmasala gewiss keinen Mönch und keine Nonne gibt, die dermaßen Sachkenntnis und tiefes Verständnis vom betreffenden Thema haben. Vielleicht wäre die betreffende Heilige heute sogar 'vergessen'und verstaubt, zwischen zwei hölzernen Buchdeckeln, wenn da nicht eine Tibetologin aus dem Westen gekommen wäre.

3. Womit ich zum Schluß auf die schwierigsten Fragen komme: die mystische Schau und den Sprung in den Abgrund. Normalerweise sollte man darüber gar nicht schreiben, aber ein bißchen kuriose Unterhaltung und Spaß darf sein. Die Schau und der Sprung sind zwei sehr verschiedene Paar Stiefel, und haben (fast) nichts miteinander zu tun. Mich beeindruckt an Meister Eckehart, dass er total nüchtern und stets im realen Alltag verankert bleibt. Es gibt nur zwei oder drei Stellen in seinem Werk, die man auf eine persönliche 'Erfahrung der Ergriffenheit' deuten könnte. Das ist ein erster Hinweis darauf, dass für den Weg zum Sprungbrett die mystische Schau offenbar nicht wesentlich ist.

Die indischen Kollegen würden die mystische Schau sogar als Hindernis ansehen (zB. Patanjali, Sutras, III-38). Sie warnen davor, in ihr hängen zu bleiben bzw. nach ihrer Wiederholung zu trachten. Denn die positiven Gefühle und Eindrücke, die mit der mystischen Schau verbunden sind, zeigen ganz deutlich, dass da noch irgendein 'Substrat' da ist, das Empfinden, Wahrnehmen, Bewerten und Genießen kann. Vor dem Sprung in den Abgrund muss aber auch dieses Substrat vernichtet werden. Nicht nur die Kleider müssen vom Körper genommen werden, auch der Körper muss ausgezogen werden. Und das wiederum heißt nicht, das sich etwas vom Körper ablöst, sich von ihm befreit - irgendsoeine 'Seele' oder ein rausfahrender 'der Geist aus der Flasche'. Nein, es ist umgekehrt. Der Körper wird in den 'Geist' hinein aufgelöst. Kosten für Grab und Sarg fallen somit nicht mehr an. Die Dzogchens erzählen, dass Haare und Nägel übrig bleiben. Aber das ist nur ein Spaß, den sie sich machen, um Ahnungslose zu erschrecken. Denn auch die Dzogchens klopfen sich gern auf die Schenkel. Ist eine Folge der Freiheit und Souveränität, die sich auf dem Weg zum Sprungbrett allmählich einstellt.

Jetzt sehe ich, dass da noch zwei Zipfel von Deinem ZITAT-Text sind, die ich ausgeschnitten hatte:

"Die Kirche der Zukunft wird mystisch sein - oder sie wird nicht mehr sein." (K. Rahner)
Der neue Augustus wird sich selbstverständlich als grosser Brückenbauer inszenieren, hinein in das Reich, das nicht von dieser Welt ist.

so ist es! so wird es sein!!!!! Aber das wird nur eine Nimbus-Mystik, ein Nimbus-Brückenbau! Die Mystik, von der wir oben gesprochen haben, jene Station auf einem harten 'Weg', wird es nicht sein. Denn 'der Weg' ist keine weltgeschichtliche Angelegenheit sondern eine rein individuelle, persönliche. Nichts in der ganzen Welt ist so eigen, wie die steile Leiter hinauf zum Sprungbrett.

Social engineering wird noch eine ganz grosse Sache: Wenn erst das Geld ausschließlich digital ist und mit sozialen Fleisspunkten verrechnet werden kann, eröffnen sich den Sozialingenieuren ganz neue Möglichkeiten. Der Dissident kann dann nach seinem Vortrag nicht mal mehr ein Taxi bestellen, weil sein Account plötzlich auf Null ist. Und er kann auch nicht mehr in die eigene Wohnung, weil ihm die Staatsmacht den Badge gesperrt hat.

richtig! sehr gut erkannt! Wer dabei sein will, muß den Asbestanzug (Heliopolis) anziehen. Die aber nicht mitmachen, werden nach Bedarf und Laune ausgeplündert, erschlagen und in den Straßen des Parsenviertels (HP) liegen gelassen. Futter für Ratten, Schmeißfliegen und Schleimpilze.

Ich bin der Auffassung, dass die Menschheit sich den größten Teil ihres ganzen Gesellschafts-, Staats- und Weltgeschichtszirkus sparen könnte. Der ist - ich wiederhole mich! - nur ein Spiegel seelischer Zustände und Konflikte sowie biologischer und intellektueller Anlagen, die der Mensch hat. Die meisten, dieser 'inneren Unstimmigkeiten und Unfähigkeiten' ließen sich auf viel einfachere Weise lösen als durch Schaukämpfe dressierter Bären in der Manege. Absolut unabhängig davon ist der Weg zum Sprungbrett, der immer und überall gegangen werden kann, selbst in der größten Not und im größten Schmerz. Und vielleicht gerade da mit erhebender Leichtigkeit. *)

Abgeschiedene Grüße!

Weiner

*) für @NST: Das ist die Auffassung im Christentum, also ganz gegenteilig zum Buddhismus!


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