mäandernde Strömungsarme

Talleyrand ⌂, Donnerstag, 14.01.2021, 17:31 (vor 1195 Tagen) @ Weiner2350 Views
bearbeitet von Talleyrand, Donnerstag, 14.01.2021, 17:37

1. Wenn es bei mir zeitlich klappt, werde ich einen Teil meines Zyklenmodells noch in diesem Jahr veröffentlichen.

Es würde mich freuen, davon zu lesen.

2. Wegen dem Schmitt'schen Parakleten bin ich nun beruhigt, vielen Dank für die Korrektur und Ergänzung! Ich mache generell nicht mit, wenn man Begriffe aus der religiösen Sphäre auf die Realgeschichte überträgt, denn dort haben sie nichts verloren.

Dazu hat Oblomow schon etwas gesagt. Ich stimme ihm zu. Ergänzend noch: Auch der Aufhalter = Katechon ist natürlich ein religiöser Begriff.
In der Realgeschichte findest Du ständig Überlappungen mit dem Reich, das nicht von dieser Welt ist. Noch jeder amerikanische Präsident z.B. tritt als Pontifex und Hohepriester auf, in den Reden zur Nation.


3. Eigentlich habe ich mich nicht despektierlich über Jünger geäußert sondern über die Figur des 'Anarchen'.

Weiter oben hast Du geschrieben: "Der Anarch ist ... ein Trittbrettfahrer, der sich in der Nähe des Diktators aufhält, zwar aufsässige Meinungen hat, aber geduldet wird, weil er gute Drinks servieren kann."
Das bezieht sich auf Venator in Eumeswil, ist aber leider inhaltlich nicht korrekt. Der Anarch äussert keine aufsässigen Meinungen. Deshalb fällt er in keiner Weise auf, und deshalb wird er auch nicht geduldet, sondern wird einfach übersehen. Die mit den aufsässigen Meinungen benennt Venator: es sind, im Gegensatz zu ihm, Anarchisten. Heute würde man sagen: Aktivisten, Verschwörungstheoretiker, Leugner von x oder y. Der Anarch hat mit diesen Leuten nichts zu tun.

Wenn Du mich festnageln wolltest, würde ich auf die Pariser Jahre Jüngers verweisen (Besatzungsoffizier), wo er mit der Herausforderung konfrontiert war, einerseits Teil der Macht zu sein, andererseits persönlich nicht zu wollen, was die Macht will. Bei Gott, er war da nicht der Einzige, aber es gab Menschen, die haben sich gegen die Macht entschieden. Und die haben meinen größeren Respekt.

Auch hier muss ich - unter Schmerzen - widersprechen. Der Stab des Militärbefehlshabers in Frankreich war ein Widerstandsnest, und Jünger befand sich mittendrin. Am 20. Juli hat man dort die gesamte SS und Gestapo im Grossraum Paris verhaftet. In Paris war also der Putsch erfolgreich. General Stülpnagel
https://de.wikipedia.org/wiki/Carl-Heinrich_von_St%C3%BClpnagel
wurde wie verschiedene andere Offiziere des Pariser Stabes nach dem Scheitern des Putsches in Berlin hingerichtet, auch Rommel ist hier zu nennen, der die Friedensschrift Jüngers gelesen und akzeptiert hatte.
Jünger war als Chronist der Ereignisse vorgesehen. Dazu z.B. seine Schrift über den Kampf zwischen Partei und Heer über die Vorherrschaft in Frankreich. Und seine Schrift "der Friede," für die Zeit nach dem erfolgreichen Attentat gedacht. General Stülpnagel hat Jünger bewußt aus der unmittelbaren Mitwisserschaft zum technischen Ablauf des Umsturzes ferngehalten, um ihn für den Fall des Scheiterns als Chronisten zu bewahren. Und so ist es dann auch gekommen. Deshalb nachlesen! In: E.Jünger, Strahlungen. Das erste Pariser Tagebuch, Kaukasische Aufzeichnungen, Das zweite Pariser Tagebuch.

Jünger hat nach meinem Wissen keinen akzeptablen Vorschlag gemacht, das Machtproblem zu lösen, möglicherweise hat er es überhaupt nicht verstanden. Der 'Anarch' bzw. 'Waldgänger' ist für mich einer, der ausweicht. In speziellen Situationen kann das vernüftig sein, menschliche Gemeinschaften kann man mit diesem Typ nicht gründen.

Jünger hat mehrere Vorschläge gemacht:
- 'Der Arbeiter' ist die Vision einer totalitären Moderne, in der sich jeder am Aufbau und der Machtentfaltung des Gemeinwesens mitarbeitet, und Opposition und Diskussion keinen Platz mehr haben.

- 'Der Weltstaat' ist die Vision einer aussenpolitischen Befriedung durch Übermacht eines Staates. In Teilen bereits verwirklicht, siehe die Pax Americana auf den Weltmeeren, und der Friede in Südamerika und Europa aufgrund der Übermacht der USA.

- Der 'Anarch' (im Roman 'Eumeswil', aber auch schon davor, etwa in 'Der Waldgang') löst das Machtproblem in der Weise, dass er mit der Macht rechnet, aber sie nicht (als legitim) anerkennt. Desengagement statt Mitarbeit oder Opposition.

4. Damit zurück zur Grundfrage: lassen sich stabile und (trotzdem) entwicklungsfähige (d.h. offene) Menschengemeinschaften mit Tausenden oder gar Millionen Individuen gründen und lebendig halten, die nicht auf Herrschaft (allein) basieren? Diese Frage, auch wenn sie hypothetisch erscheint, darf gestellt werden - sie muss sogar gestellt werden.
... kann ein solcher Konsens auch ohne äußeren Zwang (durch den Samurai, den Frankenkönig, den Azteken, den Inka, den Pharao, den assyrischen Großkönig, den Imperator, durch das debitistische Schwert) hergestellt werden? Ich beantworte mir diese Frage mit JA, und ich handle entsprechend.

Natürlich kann er das, wenn eine Groß-Gruppe lange genug zusammenlebt, sich mithin zu einer halbwegs homogenen Nation entwickelt, dann entsteht der Konsens über Vieles "wie von selbst."

Wer diese Haltung durchdenken und in allen Optionen durchspielen möchte, der wird darauf kommen, dass es bei mir für Anarchen, Monarchen und Katechonen zunächst keinen Platz gibt. Großzügigerweise kann man sie natürlich reinlassen, wenn sie das Gesamtgefüge nicht wesentlich stören. Und (ebenfalls in gewissem Umfang) Leute mit IQ unter 100 (ich beziehe mich auf den netten Beitrag von @Sylvia), solange sie nicht kriminell sind. Denn für das Erlernen und für die fortlaufende Ausübung gut sozialer Verhaltensweisen (Modell Tokio oder Singapur) reicht ein Score von 80-90.

Konservativ ist das nicht. Liberal auch nicht. Vermutlich gehört dieser Denke die Zukunft.
Ich rieche Menschenfleisch. Gesellschaftliche Utopien, realisiert von Menschenfreunden wie Robespierre, Lenin oder Rosenberg.
Du sprichst hier die Sprache des Sozialingenieurs, der, nach Nietzsche, künstlich wiederherstellen will, was verlorengegangen ist. Nietzsche hat das als Hauptkennzeichen des Nihilismus genannt. Man könnte es auch Zynismus der Macht nennen. Die Ingenieure der Machtausübung, das sind bei Jünger die "Mauretanier." Das sind die Feinde des kreativen und gläubig-naiven Menschen.

Vielleicht wiederhole ich mich: soziale (Menschen-) Gemeinschaften haben nur drei Feinde, nämlich (menschliche) Parasiten, Räuber und Diebe. Wenn man diese drei Herausforderungen lösen kann, dann sind weitgehend herrschaftsfreie Gemeinschaften konstituierbar.


Ja, und wenn der Hund net ... hätt, dann hätt er die Wurst gekriegt. Das Thema ist umfangreich. Auch die debitistische Machttheorie wäre zu nennen. Homo homini lupus. Menschliche Gemeinschaften sind wie übrigens auch Tiere in Hierarchien organisiert. Daraus allein entstehen bereits alle grundsätzlichen Probleme der Macht. Keine Gemeinschaft ohne Hierarchie, keine Hierarchie ohne Macht, mit allen Begleiterscheinungen wie Privilegien, Ungleichheit, Korruption, Lüge. Noch vor allen Räubern und Parasiten, und vor dem debitistischen Zwang zur Erwirtschaftung von Abgaben.

Grundsätzlich: Die Diskussion mäandert. Zum Einen erkenne ich einen Strömungsarm "Reform des Staates / Verhältnis des Einzelnen zum Staat."
Dann "große Wellen/Zyklen / erwartete Ankunft des Präskripors / Katechons
Dann "mystische Schau / Sprung in den Abgrund."

Ich meditiere gerade darüber, was die Strömungsarme miteinander zu tun haben könnten.
"Die Kirche der Zukunft wird mystisch sein - oder sie wird nicht mehr sein." (K. Rahner)
Der neue Augustus wird sich selbstverständlich als grosser Brückenbauer inszenieren, hinein in das Reich, das nicht von dieser Welt ist.
Social engineering wird noch eine ganz grosse Sache: Wenn erst das Geld ausschließlich digital ist und mit sozialen Fleisspunkten verrechnet werden kann, eröffnen sich den Sozialingenieuren ganz neue Möglichkeiten. Der Dissident kann dann nach seinem Vortrag nicht mal mehr ein Taxi bestellen, weil sein Account plötzlich auf Null ist. Und er kann auch nicht mehr in die eigene Wohnung, weil ihm die Staatsmacht den Badge gesperrt hat.

Vielen Dank für den link zu Michael Lütge. Ein sehr feiner Text!

Gruß
Talleyrand

--
https://talleyrandssudelbuch.art.blog


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