Wie werden wir nach dem gesellschaftlichen Absturz leben?

Plancius, Freitag, 16.09.2022, 13:41 (vor 827 Tagen)8951 Views

Nachdem @Dieter sehr schön die Lage der Nation beschrieben hat, möchte ich in diesem Thread gern unsere Lebensweise nach dem ökonomischen Absturz diskutieren und ob unsere gesellschaftlichen Institutionen überhaupt auf ein wesentlich niedrigeres Lebensniveau vorbereitet bzw. mit ihm kompatibel sind.

Mit den Sanktionen gegen Russland, dem damit verbundenen Abschneiden Deutschlands von russischen Rohstoffen und Energieträgern und in der Folge explodierenden Energiekosten haben uns unsere Politiker quasi ein Peak-Oil-Szenario aufgenötigt. Sind früher Kriege wegen des Zugangs zu preiswerter Energie und Rohstoffen geführt worden, um das eigene Land zu entwickeln, trennt man sich in Deutschland freiwillig von preiswerter Energie und das wahrscheinlich irreversibel.

Der gesellschaftliche Konsens der BRD beruht darauf, dass die Politik Wohlstand für die breite Masse schafft, also eine breite Mittelschicht existiert. Der Wähler nimmt den politischen Kampf zwischen den Parteien dann nur derart wahr, dass es darum geht, wie der jährliche Zuwachs verteilt werden und auf welcher Basis er immer wieder neu erwirtschaftet werden soll. Dass dieser Konsens bereits spätestens 2015 aufgekündigt wurde und die Ampel jetzt die Eckpfeiler unseres Wohlstands brutal wegschlägt, ist bei der breiten Masse noch nicht angekommen. Daher das ungebrochene Vertrauen in das politische System der BRD und deren Altparteien.

Wie sieht unser Leben in ein paar Monaten aus, wenn sich die Kosten für unsere Grundbedürfnisse vervielfachen und auch alle anderen Preise steigen?

Nehmen wir mal an, wir fallen auf das Niveau eines Schwellenlandes, sagen wir der Türkei hinab. Also ein Durchschnittsverdiener hat nach Abzug der Kosten zur Befriedigung des Grundbedarfs (Wohnen, Wärme, Essen) noch 300 Euro übrig. Damit ist kein privater PKW mehr zu finanzieren?

Wie wird ohne Auto das Bedürfnis nach individueller Mobilität befriedigt? Wie kommt man an seinen Arbeitsplatz? Viele Gewerbegebiete sind nur mit dem Auto erreichbar. Unsere Wirtschaft basiert auf der Annahme, dass der Arbeitnehmer ein eigenes Auto hat und mit diesem seinen Arbeitsplatz erreicht. Und mit der Flexibilisierung der Arbeitszeiten ist selbst ein effizienter Transport mit Bussen nicht möglich.

In allen Schwellenländern, die ich kenne, wuselt es nur so von Kleinbussen, meist japanischer Bauart, die es so bei uns gar nicht gibt. Als ich im Norden Weißrusslands in einer kleinen Stadt war, konnten die Leute jeden Tag sehr preiswert mit Kleinbussen zur Arbeit, in die nächste größere Stadt, selbst bis nach Minsk oder Smolensk fahren. Die Arbeitszeiten in den Betrieben, Büros und Behörden waren synchronisiert, so dass die Beschäftigten in Witebsk oder Orscha morgens in einem vollen Bus an die Arbeit fuhren und abends in einem vollen Bus nach Hause zurückkehrten.

Nehmen wir jetzt an, für das Bedürfnis nach Mobilität bildet sich ein Markt. Dann kann aber doch nach deutschem Standard gar kein preiswerter Transport angeboten werden. Hoher Spritpreis, Mehrwertsteuer, hohe Sozialabgaben, TÜV, Beiträge zu Verbänden, hohe Steuern. Mit diesen hohen Kosten ist ein Dolmusch-Fahrer in der Türkei nicht belastet. Er fährt auch mit einer gesplitterten Scheibe.

Für viele wird sich die Frage des Transports an den Arbeitsplatz nicht mehr stellen, weil viele Betriebe bei 6fach höheren Energiekosten als der Wettbewerb nicht mehr konkurrenzfähig sind. Es wird also ein riesengroßes Arbeitskräfteangebot geben. So wie in den Schwellenländern können viele Arbeitskräfte im Dienstleistungssektor absorbiert werden. Bei uns fehlen ja ganze Branchen, wie persönliche Dienste für die gehobene Mittelschicht, alle möglichen Hilfskräfte, street food, Wäschereien, Transportdienste, Tierpfleger in Ställen, Erntehelfer, Hotel und Gastronomie.

Wenn das Sozialsystem mit Bürgergeld bestehen bleibt, dann werden aber all diese Stellen nicht besetzt, weil das daraus erzielbare Einkommen dem Bürgergeld gegenüber nicht wettbewerbsfähig ist. Ist das Sozialsystem nicht mehr finanzierbar, so müsste ein solcher Job wegen der hohen Energiekosten mehr als 2000 Euro abwerfen, damit der Beschäftigte überhaupt seinen Grundbedarf decken kann. Mit mehr als 800 Euro sind diese Tätigkeiten aber nicht mehr wirtschaftlich, so dass sie auch ohne Sozialsystem nicht besetzt werden.

Wenn Energie teuer wird, dann müssten eigentlich Energie verbrauchende Prozesse durch menschliche Arbeit ersetzt werden, z.B. in der Landwirtschaft Substitution der mechanischen Arbeitsgänge durch menschliche Arbeit. Aber auch hier wieder die Kosten des energetischen Grundumsatzes eines Menschen in unseren Breiten, die einfache Tätigkeiten nicht mehr erwirtschaften können.

Ein weiterer extremer Kostentreiber ist ja der Staat mit seinen Verordnungen, die für eine breite ausdifferenzierte Mittelschicht eines Hochlohnlandes konzipiert sind. Wenn neue Gasheizungen ab 2024 verboten werden, soll ich eine Wärmepumpe Heizung für 45000 Euro installieren. Die Grundsteuerreform wird weitere Belastungen bringen. Weitere steigende Belastungen bei sinkendem verfügbaren Einkommen. Wer soll das alles noch bezahlen?

Egal wie ich es drehe und wende, die Katze beißt sich immer in den Schwanz. Die explodierenden Energiekosten führen zu einem Verlust an Wettbewerbsfähigkeit auf allen Ebenen, so dass selbst das Modell eines Schwellenlandes bei uns nicht haltbar ist.

Ein neues gesellschaftliches Gleichgewicht ist nur zu möglich, wenn der gewaltige Kostenblock importierter fossiler Energie beseitigt wird. Dann müssten wir aber einige hundert Jahre zurück zum Kienspan, wo aber nur maximal 30 Millionen Menschen in Deutschland ernährt werden können. Also das Deagel Szenario.

Der komplette Absturz Deutschlands könnte nur verhindert werden, wenn wir kurzfristig die Reißleine ziehen und die Sanktionen gegen Russland einstellen und die gesamte Energiewende beerdigen. Die Energiewende hätte jetzt ihre Feuertaufe zu bestehen, hat aber wie vermutet komplett versagt.

Für einen Politikwechsel fehlt es allerdings an einer gesellschaftlichen Mehrheit, was uns die Niedersachsenwahl wieder zeigen wird.

Ich würde mich über eine lebhafte Diskussion freuen. Vielleicht habe ich ja wichtige Punkte übersehen und sehe den Absturz zu drastisch. Ulrike Hermann von der taz geht ja in ihrem Szenario, das auf langfristig teuren erneuerbaren Energien beruht, nur von einem Schrumpfen auf das Niveau der 70er Jahre aus.

Gruß Plancius

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"Natürlicher Verstand kann fast jeden Grad an Bildung ersetzen, aber keine Bildung den natürlichen Verstand." ARTHUR SCHOPENHAUER


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