Die Gier und die Angst ...

Weiner, Samstag, 30.07.2022, 08:26 (vor 635 Tagen) @ Olivia3061 Views

... lassen sich praktisch nicht stillen bzw. beruhigen. Und sie stehen gewissermaßen in einem Zusammenhang. Denn die Angst folgt der Gier stets auf dem Fuße: was man in der Raffgier zusammengesammelt hat, könnte ja - so sagt die Angst - einem wieder genommen werden.

Bei Putin kommt eine existentielle Verknüpfung hinzu: er hat sich mehrfach in realer Lebensgefahr befunden (er selbst, Familienmitglieder, Freunde, 'Genossen'), und erkennt daher viel schärfer die Gefahr, in denen sich Russland befindet, genauer gesagt, das russische Staatssystem, das ein militärisch-geheimdienstlich-bürokratisch-(ressourcen)industrieller, korrupter sowie durch und durch mafioser Komplex ist - von Putin und seiner Clique in den letzten drei Jahrzehnten erschaffen.

Es ist oft ein Kennzeichen mafioser Strukturen und Akteure, dass man äußerst höflich und sehr korrekt miteinander redet, zu fairen Vereinbarungen gelangt und von seinem "Geschäftspartner" dann erwartet, dass er sich daran hält. Tut er das dann nicht, spricht die Waffe. Der Gratweg zwischen perfekter Diplomatie und brutaler Gewalt ist in dieser Kreisen messerscharf ...

Putin zeichnet sich dadurch aus, dass er intellektuell überlegen Gefahrensituationen und Aussichten einschätzen und dann 'seine Leute' entsprechend 'überzeugen' und führen kann. *) Viele in seiner Umgebung wollten schon 2014 gegen die Ukraine und den Westen losschlagen. Aber das wäre definitiv zu früh gewesen. Putin hatte damals nicht die Ressourcen, nicht die Verbindungen (wirtschaftlich und außenpolitisch) und nicht die ausgereifte Kampfmaschine.

Das ist heute etwas anders, aber im Grunde war der Start 2021/2022 immer noch zu früh. Deshalb muss jetzt sehr viel improvisiert werden - und das ist in einem laufenden Kriegsgeschehen selten der beste Weg.

Putin ist ein Pate. Manche Paten sind Bauern. Putin ist darüber hinaus kultiviert. Er hat zwar nicht den adligen Hintergrund Peter des Großen oder Katharina der Großen (sondern ist eben ein Kleinbürger aus der unteren Mittelschicht), aber in Bezug auf die russische Geschichte ist er deren (zyklische) Wiederverkörperung - und vermutlich fühlt er sich auch ähnlich.

Für Russland selbst, d.h. heißt für seine Bürger tut er effektiv nichts. Hier muss ich Dir klar widersprechen (und hierin liegt seine größte Schwäche). Denn soziale Entwicklung ist absolut nicht sein Focus. In diesem Bereich liegt aber so viel im Argen, und große Teile der Bevölkerung sind definitiv in Not (verglichen mit dem Wohlergehen und Reichtum der staatstragenden Eliten). Die Hoffnungen und Wünsche dieser Not werden aber stets beiseite gewischt mit dem Hinweis auf den existentiellen außenpolitischen Druck.

Mafia basiert primär auf Ausbeutung. Eine langfristig wirtschaftliche Entwicklung ist ihr fremd. Nur unter dem Druck von Sanktionen haben Putin & Co. hier einiges dazugelernt. Stalin seinerzeit oder etwa die Chinesen der Jahre 1990 bis 2020 waren so gesehen vorausschauender und fortschrittlicher.

Ich wünsche ein schönes Wochenende!

W.

*) Es gibt wohl derzeit niemand in der Welt der internationalen Politik, der auch so viel direkte Erfahrung und Wissen hat wie Putin. Selbst Kissinger ist gegen ihn nur ein oberflächlicher Überflieger, Xi neben ihm nur ein Provinzler und notorischer Partitokrat. Putin hat in den 1980ern noch mit der RAF verhandelt, hat Dutzende schwieriger Deals mit verbissenen Juden und mit dem Mossad gemacht, kennt das Erdöl- und Gasgeschäft besser als die CEOs der Ölmultis usw. usf. Das alles ist sehr beeindruckend. Es fehlt aber, vorne und hinten, an professioneller Öffentlichkeitsarbeit. So sind halt Mafiosi ...


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