Es sind zwei absolut verschiedene Dinge, 1. das, was Heraklit einmal formuliert hat und 2. das, was wir heute darunter verstehen.
Jeder Satz, jede Behauptung wird erst verständlich durch die Konnotionen, die sich mit ihm verknüpfen. Jedesmal, wenn die Behauptung oder Bemerkung erwähnt wird, rezipiert wird, wird sie interpretiert. Dadurch entsteht im Lauf der Zeit ein kultureller Fundus an Konnotationen, der jeder unterschiedlichen Kultur zu eigen ist und bei jeder Kultur - zwangsläufig - unterschiedlich ist. Nur aus dem Fundus an Konnotationen ergibt sich die eigentliche Bedeutung des Satzes - in einer bestimmten Kultur.
Das ist übrigens der Grund, warum sich verschiedene Kulturen niemals verstehen können, lt. Oswald Spengler.
Über die Rezeption der Sätze von Heraklit in der Antike wissen wir herzlich wenig; wenn wir überhaupt etwas wissen. Wir kennen außerdem nicht das Gesamtwerk von Heraklit, das - aber das wissen wir wiederum sicher - sehr viel mehr mündlich war als schriftlich. In seiner mündlichen Eigeninterpretation seiner Sätze - Betonung, Melodie, Satzstellung - hätte er uns sicher deutliche Hinweise darauf gegeben, wie seine Thesen eigentlich zu interpretieren sind und wie weit die Interpretation ausgeweitet werden kann - bzw. auch limitiert ist.
Auch heute kann man einen Professor nicht verstehen, wenn man nur seine schriftlichen Werke kennt, ohne jemals in einer Vorlesung von ihm gewesen zu sein. auf einem seiner Seminare teilgenommen zu haben und ohne dass er selber Missverständnisse ausgeräumt hat.
Wie viel weniger wissen wir da von Heraklit über seine mündliche Interpretation seiner Thesen? Nun, wir wissen überhaupt nichts.
Was wissen wir aber? Das, wie Heraklit im Abendland rezipiert wurde. Wir kennen das aus der Schule, wir wissen, dass sich 100e Universitäten mit ihm beschäftigt haben und wir kennen den Fundus an erlaubten, zulässigen Interpretationen Heraklits - und an denen, die offensichtlich nicht zulässig sind - im Westen!
Da, an diesem Punkt, mein lieber Bernd, ist dir wohl ein Fauxpas unterlaufen, indem du eine - im westlichen(!) Universitätsbetrieb verbotene - Interpretation Heraklits abgeliefert hast. @Oblomow hat dich natürlich sofort gerüsffelt. Nimm es dir zu Herzen.
PS: Die Idee, dass sich unterschiedliche Kulturen untereinander nicht verstehen, wird z.B. besonders deutlich anhand der Bibel. Seit Luthers legendärer Übersetzung ins deutsche - die, wenn auch mit Mühe, aber heute durchaus verständlich ist - gibt es mittlerweile 146(?) verschiedene Bibelübersetzungen. Wie das hat Jesus Christus, Gottes Sohn, etwa 146 verschieden Glaubenslehren verkündigt?
Hat er nicht. Der Grund besteht darin, dass richtige Übersetzungen zwischen unterschiedlichen Kulturen einfach nicht möglich sind. Daran scheitern auch alle Übersetzungsprogramme.
Gruß Mephistopheles