Ein kleiner Fund. Egon Friedell über Oswald Spengler

Oblomow, Mittwoch, 16.09.2020, 16:05 (vor 1312 Tagen) @ Mephistopheles7342 Views

In einer Art Vorrede zu seiner Kulturgeschichte spricht Egon Friedell über Historiker.
Hier, was er zu Oswald Spengler schreibt:

"Spengler

Mit großer Bewunderung muß zum Schluß noch der Name Oswald Spenglers genannt werden, vielleicht des stärksten und farbigsten Denkers, der seit Nietzsche auf deutschem Boden erschienen ist. Man muß in der Weltliteratur schon sehr hoch hinaufsteigen, um Werke von einer so funkelnden und gefüllten Geistigkeit, einer so sieghaften psychologischen Hellsichtigkeit und einem so persönlichen und suggestiven Rhythmus des Tonfalls zu finden wie den »Untergang des Abendlandes«. Was Spengler in seinen beiden Bänden gibt, sind die »Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte«. Er sieht »statt des monotonen Bildes einer linienförmigen Weltgeschichte« »das Phänomen einer Vielzahl mächtiger Kulturen«. »Jede Kultur hat ihre eigenen Möglichkeiten des Ausdrucks, die erscheinen, reifen, verwelken und nie wiederkehren. Es gibt viele, im tiefsten Wesen völlig voneinander verschiedene Plastiken, Malereien, Mathematiken, Physiken, jede von begrenzter Lebensdauer, jede in sich selbst geschlossen, wie jede Pflanzenart ihre eigenen Blüten und Früchte, ihren eigenen Typus von Wachstum und Niedergang hat. Diese Kulturen, Lebewesen höchsten Ranges, wachsen in einer erhabenen Zwecklosigkeit auf, wie die Blumen auf dem Felde.« Kulturen sind Organismen; Kulturgeschichte ist ihre Biographie. Spengler konstatiert neun solche Kulturen: die babylonische, die ägyptische, die indische, die chinesische, die antike, die arabische, die mexikanische, die abendländische, die russische, die er abwechselnd beleuchtet, natürlich nicht mit gleichmäßiger Schärfe und Vollständigkeit, da wir ja über sie in sehr ungleichem Maße unterrichtet sind. In dem Entwicklungsgang aller dieser Kulturen herrschen aber gewisse Parallelismen, und dies veranlaßt Spengler zur Einführung des Begriffs der »gleichzeitigen« Phänomene, worunter er geschichtliche Fakta versteht, »die, jedes in seiner Kultur, in genau derselben – relativen – Lage eintreten und also eine genau entsprechende Bedeutung haben«. »Gleichzeitig« vollzieht sich zum Beispiel die Entstehung der lonik und des Barock. Polygnot und Rembrandt, Polyklet und Bach, Sokrates und Voltaire sind »Zeitgenossen«. Selbstverständlich herrscht aber auch innerhalb derselben Kultur auf jeder ihrer Entwicklungsstufen eine völlige Kongruenz aller ihrer Lebensäußerungen. So besteht zum Beispiel ein tiefer Zusammenhang der Form zwischen der Differentialrechnung und dem dynastischen Staatsprinzip Ludwigs des Vierzehnten, zwischen der antiken Polis und der euklidischen Geometrie, zwischen der Raumperspektive der abendländischen Ölmalerei und der Überwindung des Raumes durch Bahnen, Fernsprecher und Fernwaffen. An der Hand dieser und ähnlicher Leitprinzipien gelangt nun Spengler zu den geistvollsten und überraschendsten Entdeckungen. Das »protestantische Braun« der Holländer und das »atheistische Freilicht« der Manetschule, der »Weg« als das Ursymbol der ägyptischen Seele und die »Ebene« als das Leitmotiv des russischen Weltgefühls, die »magische« Kultur der Araber und die »faustische« Kultur des Abendlandes, die »zweite Religiosität«, in der späte Kulturen ihre Jugendvorstellungen wiederbeleben, und die »Fellachenreligiosität«, in der der Mensch wieder geschichtslos wird: das und noch vieles andere sind unvergeßliche Genieblitze, die für Augenblicke eine weite Nacht erhellen, unvergleichliche Funde und Treffer eines Geistes, der einen wahrhaft schöpferischen Blick für Analogien besitzt. Daß diesem Werk von den »Fachkreisen« mit einem läppischen Dünkel begegnet worden ist, der nur noch von der tauben Ahnungslosigkeit übertreffen wurde, mit der sie allen seinen Fragen und Antworten gegenüberstanden, wird niemand verwundern, der mit den Sitten und Denkweisen der Gelehrtenrepublik vertraut ist.
Die Kulturgeschichtschreibung ist selbst ein kulturgeschichtliches Phänomen, das die einzelnen von Spengler konstatierten Lebensphasen der Kindheit, der Jugend, der Männlichkeit und des Greisentums durchzumachen hat. In der Kindheit lebt der Mensch vegetativ, denkt nur an sich und seine nächsten Objekte, und deshalb schreibt er auf dieser Stufe noch gar keine Geschichte; im Jünglingsalter sieht er die Welt poetisch und konzipiert daher Geschichte in der Form der Dichtung; in der Reife der Männlichkeit erblickt er im Handeln Ziel und Sinn alles Daseins und schreibt politische Geschichte; und im Greisenalter beginnt er endlich zu verstehen: aber auf eine sehr lebensmüde und resignierte Art. Darum ist Spenglers Werk schon einfach durch seine Existenz der bündigste Beweis für die Richtigkeit seiner Geschichtskonstruktion. Das Endziel der abendländischen Entwicklung, wie Spengler sie sieht, ist die nervöse und disziplinierte Geistigkeit des Zivilisationsmenschen, ist die illusionslose Tatsachenphilosophie, der Skeptizismus und Historizismus des Weltstädters, ist, mit einem Wort: Spengler. Dies ohne jeden bösen Nebensinn gesagt. Es ist zu allen Zeiten das gute Recht des Denkers gewesen, sich selbst zu beweisen; und je größer der Denker ist, desto gegründeter, selbstverständlicher, unentrinnbarer ist dieses sein Recht.

Aber: – Spengler ist eben darin das Produkt seiner Zeit, daß er Atheist, Agnostiker, verkappter Materialist ist. Er fußt auf der Biologie, der Experimentalpsychologie, der feineren Statistik, ja der Mechanik. Er glaubt nicht an den Sinn des Universums, an das immanente Göttliche. Der »Untergang des Abendlandes« ist die hinreißende Fiktion eines Zivilisationsdenkers, der nicht mehr an Aufstieg glauben kann. Spengler ist der letzte, feinste, vergeistigtste Erbe des technischen Zeitalters und au fond der geistreichste Schüler Darwins und des gesamten englischen Sensualismus, bis in seine Umkehrungen dieser Lehren hinein, ja vielleicht gerade dort am stärksten. Deshalb sind nur seine historischen Schlüsse absolut zwingend, keineswegs seine philosophischen. Wenn sich zum Beispiel auf der letzten Seite seines Werks die Worte finden: »Die Zeit ist es, deren unerbittlicher Gang den flüchtigen Zufall Kultur auf diesem Planeten in den Zufall Mensch einbettet, eine Form, in welcher der Zufall Leben eine Zeitlang dahinströmt«, so sind solche Behauptungen wahr und nicht wahr: wahr nämlich nur als Lebensäußerungen einer bestimmten historischen Menschenvarietät: der heutigen, die Spengler als eines ihrer Exemplare, und zwar als eines ihrer leuchtendsten Exemplare vertritt; genau so wahr wie der Fetischismus der Naturvölker oder das ptolemäische Weltsystem der Antike."

Aus: Kulturgeschichte der Neuzeit https://www.projekt-gutenberg.org/friedell/kulturg1/chap01.html

Herzlich
Oblomow


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