Aus meiner Erfahrung heraus…

Leserzuschrift, Sonntag, 21.05.2017, 19:47 (vor 2741 Tagen) @ Literaturhinweis7870 Views

...weil das Gehirn - außer vielleicht bei trainierten Simultandolmetschern - eine gewisse "Warmlaufzeit" braucht, um von einer Sprache in eine andere zu wechseln.

> Das genau ist nicht der Fall, wenn, ja, wenn, dasselbe Sprachzentrum involviert ist. Es gibt nur eines.

Das widerspricht meiner Erfahrung. Ich kenne mich halbwegs mit Spanisch, Deutsch und Englisch aus, und ich denke im jeweiligen Kontext in der jeweiligen Sprache.
Das merke ich insbesondere dann, wenn mir in der Fremdsprache bestimmte Wörter oder Floskeln fehlen, um meine Gedanken flüssig ausdrücken zu können. Dann wechsel ich im Kopf eben doch manchmal in die Muttersprache, um weiter denken zu können.

Und wenn ich gerade im spanischen Kontext bin, und mich spricht beispielsweise ein Tourist auf Englisch an, dann brauche ich einige Zeit, um in dieser Sprache "in Schwung" zu kommen. Das ist mir auch schon umgekehrt im Ausland mit meiner Muttersprache passiert.


> Das staatlich organisierte "Fremd"-Sprachenlernen geht aber über sämtlichen wissenschaftlichen Erkenntnisse dazu hinweg und speichert die jeweilige Fremdsprache in einer anderen, nicht für gesprochene Sprache zuständigen, Hirnregion. Das ist auch kaum heilbar.

Das dürfte vor allem kaum von außen zu beeinflussen sein. Jedes Gehirn entscheidet selbst, wo und wie es neues Wissen abspeichert.

Wenn man einmal unterstellt, dass das Gehirn tatsächlich ein gigantisches neuronales Netz ist, dann zeigen meine Erfahrungen mit technischen neuronalen Netzen, dass es sehr schwer ist, einmal gelernte Verbindungen "umzuprogrammieren". Wenn man ein bereits trainiertes Netz mit neuen Informationen "füttern" möchte, dann geht das am einfachsten, indem man es mit "jungfräulichen" Neuronen erweitert, die dann das neue Wissen aufnehmen und das alte ergänzen.
Vermutlich arbeitet das Gehirn ähnlich. Das würde dann eben in der Praxis wie bei Deiner Chinesin zu mehreren Sprach"zentren" führen.
Und das würde - nebenbei bemerkt - auch erklären, warum manche Menschen im zunehmenden Alter in "eingefahrenen Gleisen" feststecken: bei ihnen ist einfach die Bildung neuer Neuronen gestört oder ganz zum Erliegen gekommen, so dass das alte Wissen nicht mehr mit neuen Erkenntnissen überlagert werden kann.

Es wäre besser, beispielsweise alle zwei Wochen einen ganzen Tag der Fremdsprache zu widmen als zwei, drei isolierte Stunden pro Woche.

> Das funktioniert schon deshalb nicht, weil für einen solchen Unterricht man einen Muttersprachler einstellen müßte ...

Ja, natürlich. Oder mindestens einen Zweisprachler.


> Sechs Wochen Auslandsaufenthalt ergeben (mindestens!) dasselbe Ergebnis, wie sechs Jahre staatlicher Fremdsprachenunterricht.

Ja, wobei eine Basis aus Grundwortschatz und rudimentärer Grammatik äußerst hilfreich ist.

Das nächste Lernhindernis ist das ständige Übersetzen zwischen Fremd- und Muttersprache. Das Denken bleibt in der Muttersprache verhaftet, während die verbale oder schriftliche Kommunikation in der fremden Sprache erfolgt. Am Anfang ist das wohl nicht zu vermeiden, ...

> Aber ja doch - oder in welcher Sprache hat ihnen ein Sprachlehrer Ihre Muttersprache beigebracht???

Es war die erste Sprache in einem "jungfräulichen" Gehirn. Alle anderen Sprachen kamen später hinzu, als das Mutter-Sprachzentrum bereits ausgeformt war.

Nun könnte man auf die Idee kommen, ein Kind gleich von klein auf mehrsprachig aufzuziehen, damit alle Sprachen in einem Zentrum landen.
Das das schief gehen kann, habe ich in der entfernteren Verwandtschaft erlebt. Die Eltern, beide unterschiedliche Muttersprachler, zogen berufsbedingt in ein für beide fremdsprachiges Ausland als der Sohn ein Jahr alt war. Sie wollten es besonders gut meinen und sprachen zu Hause ihre beiden Sprachen immer im Wechsel und schickten das Kind frühzeitig in einen Kindergarten, damit er auch noch die Landessprache erlerne.
Das Ergebnis war, dass das Kind mit fünf immer noch nicht sprach, mit zehn Jahren oft nur ein Kauderwelch aus allen drei Sprachen herausbrachte und heute als fast Erwachsener gelegentlich immer noch unbemerkt von einer Sprache zur anderen springt.

Es scheint, dass eine gewisse Trennung im Gehirn auch Vorteile hat.


> Man denkt nicht "in Sprache".

"Man" vielleicht nicht, ich schon. Denke ich jedenfalls...

Und ich glaube, dass die technische Entwicklung der Neuzeit (Dampfmaschine, industrielle Revolution) von Nord-Mittel-Europa ausging, hat durchaus etwas mit den dort gesprochenen (untereinander verwandten) Sprachen zu tun. Sie ermöglichen ein "anderes" Denken im Vergleich zu anderen Weltsprachen.


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