@Morpheus und @Beo2: Das ist bei Weitem nicht konkret genug!!

Weiner, Dienstag, 27.09.2022, 09:20 (vor 548 Tagen) @ Morpheus3108 Views

Hallo Morpheus und Beo2 -

ich danke für Eure Beiträge und beantworte sie in einem neuen Beitrag, zuerst die Liste von @Morpheus aufgreifend:

1) Wir brauchen die Erkenntnis, dass Herrschaft schadet.

Diese Erkenntnis ist m.E. überall vorhanden (man kann Ausnahmesituationen finden, in denen Herrschaft positiv wirkt, Modellbeispiel wäre etwa die Diktatur in der frühen Römischen Republik). Es gibt allerdings kaum Kenntnis und Erfahrung davon, wie ein herrschaftsfreies Gemeinwesen KONKRET organisiert werden kann. Dazu muss erst jemand ein Regelwerk vorschlagen, angefangen von der Abhaltung einer Versammlung mit mehr als 100 Leuten, bei der am Ende eine Entscheidung und ein Konsens - oder was immer - gefunden werden soll. Mutt' Du nur mal die nächste Sitzung des Obst- und Gartenbauvereins besuchen ...

2) Wir brauchen die Entfernung der bisher Herrschenden von den Schalthebeln.

Wie um Himmels Willen soll das geschehen? Durch Verhaftungen und Liquidationen? Wer führt die durch? Die "bisher Herrschenden" - das ist eine riesige Armada. Das sind, bezogen auf Deutschland, zahlenmäßig weit mehr als all die Reservisten, die Putin jetzt mobilisieren will. Und genauso gibt es 100.000 Schalthebel, an denen die "bisher Herrschenden" werkeln. Und wenn Du einen Schalthebel blockierst, dann rennen zehn neue "herrschen Wollende" in vorauseilendem Gehorsam herbei, um die 'Entfernten' zu ersetzen und die Hebel wieder zu bewegen: denn Macht haben und herrschen, das ist soooo geil ...

3) Wir brauchen die Einigung mit Russland, um ausreichend Energie zu bekommen und die Preise wieder zu senken.

WER bitte sollte sich mit Russland einigen? Wo ist irgendeine Gruppierung in Deutschland, die real die Autorität hätte, mit Diplomaten der Russischen Föderation oder mit russischen Energiemanagern zu verhandeln? Wer hätte dafür ein Mandat? Wer kann die dafür nötige finanzielle Sicherheitsleistung aufbringen? [siehe hierzu aber meine Idee ganz unten, am Ende dieses langen Textes ...].

4) Damit gewinnen wir die Zeit, die wir für einen Umbau der Gesellschaft benötigen.
5) Der Umbau kann/muss dann zügig mit einer möglichst parallelisierten Bestandsaufnahme beginnen.

Das sind zentrale und wichtige Punkte. Aber es hilft nicht zu sagen: wir brauchen das; wir müssen dies und das tun. Es beginnt damit, dass ein Einzelner oder eine Gruppe die Bestandsaufnahme und den Umbauplan tatsächlich vorlegt. Das kann ein unfertiger Entwurf sein, aber er hat so attraktiv zu sein, dass er Andere zum Mitmachen und zur Weiterentwicklung einlädt, quasi magisch anzieht, weil man erkennt: ja, so könnte es funktionieren. Also: wo ist der Entwurf? Wenn er vorgelegt wird, entsteht neue Zeit und entstehen neue Spielräume - und Andere, im Hintergrund, zücken sofort ihre bereits bestens geschliffenen Messer. Denn diese Anderen sind Dir immer fünf Schachzüge denkend voraus und wissen was Du tun willst, bevor Du selbst angefangen hast zu denken.


6) Es müssen zentrale Strukturen abgebaut werden.
7) Es müssen dezentrale Strukturen auf der untersten Ebene gefördert werden.
8) Wo große Institution/Unternehmen sterben, sind sie in kleine Einheiten zu zerlegen
9) Kleine Strukturen werden gefördert, übergroße Institutionen werden unter Anpassungsdruck gesetzt sich zu verkleinern bzw. zu zerlegen.
10) Öffentliche Strukturen müssen intelligent, also im Sinne der Bevölkerung privatisiert werden.

Bin ich nicht dagegen. Bitte anfangen, ein 'Privatisierungsgesetz' zu schreiben. Wurden aber schon alle Möglichkeiten ausgeschöpft, die die Gesetze über betriebliche Mitbestimmung den deutschen Arbeitnehmern bieten? Werden von den Gewerkschaften alle Möglichkeiten ausgeschöpft, die die Gesetze zu Tarifverträgen und zu legalen Streiks bieten? So vieles wäre möglich unter bereits bestehendem Recht. Aber man macht nichts ...

@Morpheus: "Man kann das z.B. durch Genossenschaften machen, aber ich bin davon kein Freund, weil die Bevölkerung ihr Geld investieren muss, und ich besser finde, es wird an einen Unternehmer delegiert, der persönlich investiert ist."

Echte Unternehmer sind freie Menschen, keine Delegierte!!! Und wenn sie investieren (Kapital, Ideen, Arbeit), dann wollen sie einen Profit haben. Es gibt durchaus Unternehmer, die fair gegenüber ihren Mitarbeitern sind, manche sogar mehr als fair - aber sie nehmen auf keinen Fall Delegierungen entgegen! Genossenschaften wären etwas Wunderbares, aber sie erfordern freie und ganze Menschen - wach, intelligent, mitdenkend, auf die gemeinsame Sache bezogen, bereit zu geben (und nicht nur zu nehmen), die Mitgenossen wertschätzend. In Genossenschaften steckt ein komplexer Kodex an Verhaltensweisen, der heute nur noch sehr selten zu finden ist. In den Batallionen in der Ukraine, egal auf welcher Seite, wird er eben wieder neu entdeckt.

Die Liste von @Beo2 sieht so aus:

_ 1) nicht mehr wählen gehen;

Das ist die einfachste Übung. Viele folgen ihr schon. Die Wahl gestern in Italien hatte 64% Beteiligung. In Frankreich bei der Präsidentschaftswahl war es etwa ebenso, bei Regional- oder Parlamentswahlen kann das aber weit unter 50% liegen, bisweilen gehen in Frankreich nur noch ein Drittel aller Wahlberechtigten wählen. In meiner Nachbarstadt war neulich die Wahl des Oberbürgermeisters. Die örtliche Zeitung schrieb hinterher: "Die Wahlbeteiligung lag bei gut 19%." Das Wort 'gut' klingt hier sehr verstörend.

_ 2) regelmäßig auf die Straße gehen und die Etablierung von Referenden (Bürgerentscheiden) auf der Bundesebene einfordern .. mindestens nach Schweizer Vorbild;
_ 3) ein ausführliches Gesetz über die "niederschwellige" Initiierung und Durchführung von Referenden einfordern;
_ 4) Einfordern einer ständig bereitstehenden Infrastruktur für eine schnelle Durchführung von Referenden;

Einfordern, einfordern - wer fordert von wem? Referenden bringen gar nichts. Weil man die extrem komplexen Probleme der Gegenwart nicht mit Ja oder Nein beantworten bzw. lösen kann, sondern nur mit sehr durchdachten Handlungsanweisungen (die dann in Form von 'Gesetzen' ausgegeben werden). Im Übrigen brauchen wir gar keine Referenden auf Bundesebene. Wir haben Referenden und Volksinitiativen auf Landesebene, und wenn in allen Länder gleichzeitig der gleiche Gesetzentwurf einbracht wird, entsteht sofort eine bundeseinheitliche Wirkung.

_ 5) zivilgesellschaftlich organisierte und finanzierte Einberufung eines sog. "Verfassungsgebenden Bürgerrats", mit zufällig, jedoch nach bestimmten demographischen Kriterien (repräsentativ) ausgewählten Mitgliedern. Mitarbeit sowohl online als auch in regelmäßigen physischen Zusammenkünften (an Wochenenden). Liste mit nachrückenden Ersatzmitgliedern. Komplettes Auswechseln der Mitglieder alle 2 oder 3 Jahre. Erster fertiger Entwurf nach ca. 8-10 Jahren.

Gute Idee. Wie oben gegenüber @Morpheus sage ich auch hier: bitte einen ersten Entwurf vorlegen. Und er muss so passabel sein, dass es Spaß macht, daran weiterzuarbeiten. Josef HUBER, der Vollgeldmann (MONETATIVE e.V.), hat einen kompletten Neuansatz zum GG vorgelegt. Ich habe zwei oder drei andere Texte schon gesehen, aber hab die Quellen vergessen. So einen Entwurf können nur Staatsrechtler machen. Bitte Geld sammeln, bei Herrn Schachtschneider anfragen und sich Gedanken über eine Konstituierende Versammlung machen. Nach dem Grundgesetz ist eine neue Verfassung möglich. Den Weg dorthin hat das GG aber nicht beschrieben. Man kann ihn daher frei beschreiten, doch muss er den 'natürlichen Verfahrenweisen' für ein solches Projekt gehorchen, damit alles auch die allgemeine Anerkennung finden kann. Zufällig ausgewählte Bürger - das funktioniert absolut nicht und öffnet der Manipulation (durch so genannte 'Moderatoren') nur Tür und Tor (wie diverse Beispiele in Frankreich vor wenigen Jahren gezeigt haben: was ist aus den Gelbwesten geworden, die nach Direkter Demokratie und einer neuen Verfassung gerufen haben?).

6) Verbot der Besetzung von Parlamenten und Regierungen mit politischen Parteien auf allen Ebenen

Parteibildungen kann man nicht verbieten. Ihre Entstehung ist ein natürliches Geschehen in allen großen und komplexen Gesellschaften. Man kann nur ihre Macht beschränken - in einem gegenseitigen Prozess von "Check-and-Balance". Was aber tun, wenn Parteien öffentlich sich streiten, insgeheim aber kooperieren, mindestens aber stillschweigend je ihre Privilegien nutzen und genießen? Es ist allein eine Sache des Wahlgesetzes und der Regelungen zur Parteienfinanzierung. Die kann man ganz leicht ändern - per Volksgesetz mit ausreichend Unterschriften. Ergänzend kann man für Abgeordnete ein "imperatives Mandat" einführen, entweder allgemein oder in bestimmten Sachverhalten (erfordert Verfassungsänderungen).

Und damit komme ich zum entscheidenden Punkt all meiner Ausführungen. Ich habe mehrfach hier beschrieben, wie man VOLKSGESETZE auf den Weg bringt. Wir brauchen keine Referenden und große Reformprojekte sondern einzig und allein solide Gesetzentwürfe, mit denen man bei Bürgern und Bürgerinnen unterstützende Mehrheiten finden kann. Und dazu brauchen wir überhaupt nicht die Ebene des Bundes betreten, sondern können alles von den Bundesländern aus in Angriff nehmen. Ich gebe nun abschließend ein weiteres Beispiel für dieses Verfahren.

Nach allgemeiner Auffassung unter Staatsrechtlern obliegt in Deutschland die Außenpolitik dem Bund bzw. den Organen des Bundes (zB. dem Außenministerium). Das hat die einzelnen Bundesländer nicht abgehalten, in Brüssel ihre je eigenen Landesvertretungen einzurichten. Und das hat einen Franz Josef auch nicht abgehalten, nach Moskau zu fliegen und den Theo mitzunehmen. Deswegen ist der folgende Entwurf für ein Volksgesetz nicht abwegig. Im übrigen zählt die tatsächlich Handlung. Ich schreibe den folgenden Gesetzentwurf aus der Perspektive des Landes BW.

Gesetz zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen des Landes BW zu Russland und zu China.

§ 1 - Der Ministerpräsident des Landes BW kontaktiert den Außenminister der Russischen Föderation und den Außenminister der Volksrepublik China, um mit ihnen Gespräche aufzunehmen über gegenseitige diplomatische Beziehungen, über eine Sicherheitsarchitektur für Europa sowie über eine kooperative Entwicklung der Volkswirtschaften der drei Länder.

§ 2 - Der Ministerpräsident des Landes BW kann diese Kontaktaufnahme zu Russland und zu China mit anderen Landesministerpräsidenten der Bundesrepublik Deutschland koordinieren, gegebenenfalls auch den Ministerpräsidenten eines anderen Bundeslandes mit der Vertretung beauftragen oder zusammen mit anderen Ministerpräsidenten einen gemeinsamen Vertreter bestimmen und beauftragen.

§ 3 - Für den Inhalt und die Gestaltung der entsprechenden Verhandlungen dürfen Vorschläge eingereicht werden. Sie sind zu veröffentlichen und werden von einer Kommission konsolidiert. Die Gründung, Zusammensetzung und Arbeitsweise dieser außenpolitischen Kommission des Landes BW wird in Anhang 1 zu diesem Gesetz beschrieben, ihre Verhandlungen sind öffentlich. Sie kann sich mit außenpolitischen Kommissionen anderer Bundesländer koordinieren und eine gemeinsame außenpolitische Kommission mehrerer oder auch aller Bundesländer bilden. Die außenpolitische Kommission kann die Entscheidung über wichtige Verhandlungsvorschläge einer Volksabstimmung übertragen. Die konsolidierte Fassung aller Vorschläge bildet das Verhandlungsmandat für den Ministerpräsidenten bei seinen Gesprächen mit der Russischen Föderation und mit der Volksrepublik China.

§ 4 - Die Gespräche, die der Ministerpräsident des Landes BW mit der Russischen Föderation und mit der Volksrepublik China führt, werden von der Rundfunkansalt des Landes BW, ggfs. auch in Koordination mit anderen Landesrundfunkanstalten, öffentlich übertragen. Die Ergebnisse der Verhandlungen werden vom Ministerpräsidenten des Landes BW dem Bundesrat, dem Bundesparlament und der Bundesregierung von Deutschland mitgeteilt - verbunden mit der Aufforderung, die getroffenen Absichtserklärungen und Vereinbarungen umzusetzen.

Anhang 1: Konstituierung der 'Außenpolitische Kommission' (aus Platzgründen werden Details hierzu an dieser Stelle weggelassen - wie auch andere wichtige Teile eines Gesetzentwurfes, etwa die Begründung, eine Kostenschätzung etc.)

Für das obige Gesetz müssen unterstützende Unterschriften gesammelt werden (in BW 15.000). Dann wird der Gesetzentwurf der Landesregierung oder dem Landesparlament vorgelegt (im letzteren Falle mit 30.000 Unterschriften). Lehnen diese Landesorgane den Gesetzentwurf ab, kommt es zu einer amtlichen Unterschriftensammlung. Wird auch letztere trotz eines positiven Quorums weiterhin abgelehnt, kommt es zu einer amtlichen Volksabstimmung. Sind die Befürworter in der Mehrheit, tritt das Gesetz in Kraft. Und der Ministerpräsident muss ins Flugzeug steigen. Oder zurücktreten.

Indem ich so ausführlich geschrieben habe, gebe ich hiermit zu, dass die Fragen, mit denen sich Morpheus und Beo2 beschäftigen, auch mit selbst umtreiben.

W.


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