Antwort hier. Wo kann ich die Million abholen?

Weiner, Freitag, 27.03.2020, 16:34 (vor 1491 Tagen) @ trosinette1117 Views

Hallo Herr Schneider, wie geht's Dir?

Ist Kultur bzw. Zivilisation möglich, ohne dass sie in parasitärer Absicht aus den Menschen herausgekitzelt wird?

Diese Frage ist wichtig, vielen Dank! Die lag außerhalb der thematischen Absicht meines vorigen Beitrages, aber ich ergänze das liebend gern und beginne hierfür wieder im Tierreich:

Bei der Fortpflanzung von Generation zu Generation wird auch unter Tieren nicht nur Erbinformation weitergegeben, also das Genom via DNA, sondern auch Verhaltensinformation, und zwar durch Nachahmung und Lernen und Gedächtnis, letzteres, um das Gelernte, im entscheidenden Augenblick, wieder hervorholen zu können ...

Beispielsweise geben auf diese Weise die Elefanten ihre Wanderwege weiter. Ob die Lachse oder die Zugvögel das ebenfalls tun, weiß man nicht. Und es gibt durchaus Verhaltensmuster, die angeboren sind, wie etwa der Aufsteh- und Lauf'reflex' bei vielen eben geborenen Vierbeinigen ...

Ein anderes, besseres Beispiel für kulturelle Tradition: irgendeine Äffin an irgendeinem japanischen Strand hat durch Zufall entdeckt, dass im Wasser gewaschene (und gesalzene?) Früchte besser schmecken. Das hat sie ihrem Kind und anderen Mitglieder ihrer Horde gezeigt, und seither waschen dort die Affen alles nur denkbar Eßbare im Meer. Diese Verhaltensweise wird also nicht über die DNA vermittelt sondern es ist eine echte Kulturtradition. Genauso ist es nun beim Menschen, der aufgrund seiner besonderderen Konstitution (Riesenhirn mit oftmals vielen Windungen ...) und wegen anderer Fähigkeiten (Sprache; lange Kindheits- und Lernphase!!) zum Kultur-Lebewesen par excellence geworden ist. Vermutlich "durch die Evolution". Aber wie? Das weiß keiner.

Hinzu kommt beim Menschen die Kreativität und Innovation. Bereits Buchfinken und Raben können 10 Schritte imaginativ vorausdenken und im Kopf durchspielen. Wie viel es beim Menschen sind, und was da alles an Phantasie noch möglich ist, und manchmal gibt es auch noch den Zufall eines Einfalls - also das weiß keiner. Jedenfalls kann man die Evolution der Gene durchaus mit der Kreativität und Innovation im Reiche der Kultur vergleichen. Doch das würde uns jetzt auf Seitenwege führen.

Man kann nun auf dem Gedanken kommen, die Gesamtheit des kulturellen Inventars in einer Menschenpopulation als KULTUROM zu bezeichnen, das einzelne Bauteil wäre dann das KULTUREM. Beispiel: "Wie putze ich mir die Zähne?". Das ist ein relative kleiner, überschaubarer Verhaltenskomplex, ein Kulturem, wesentlich einfacher als die Kunst des Bogenschießens, die ich aber ebenfalls als Kulturem bezeichnen würde. Das gesamte KULTUROM einer Population, eben seine KULTUR, setzt sich aus Tausenden solcher Verhaltenskomplexe/Kultureme zusammen, wobei nicht alle Individuen alles beherrschen müssen. Die einen wissen, wie man Karotten aus der Erde zieht, die anderen beobachten die Sterne ...

Wegen der Lernfähigkeit, Kreativität und Innovation sowie wegen der GESCHICHTE und wegen allen möglichen anderen Umständen haben menschliche Populationen eine ungeheure Fülle von jeweiligen KULTUROMEN / Kulturen entwickelt. Die Entstehung und zeitliche Veränderung bzw. Weiterentwicklung der Schußwaffe (vom Schwarzpulver und Mörser bis zur AK64 und zum KI-Zielfernrohr) kann man als einzelne KULTUREM-Traditionslinie verfolgen und wird feststellen, dass sie nicht zufällig abläuft sondern gewissen Mustern folgt. Für mich besonders interessant sind beispielsweise auch Wahrnehmungsweisen und -präferenzen in der Ästhetik: warum findet der eine Mensch Gefallen an Bach und Mozart, der andere an Hardrock und Techno? Wie UND WANN VOR ALLEM setzen sich neue Normen durch etc. etc. Hier gibt es ein weites Feld an kulturwissenschaftlicher und anthropologischer Forschung.

Wenn nun diese eben skizzierten Grundlagen an allgemeiner Kulturfähigkeit und Kulturweitergabe inklusive kultureller Variation geklärt sind (und akzeptiert werden), dann lassen sich Deine anderen Fragen relativ leicht beantworten. Resümierend: Kultur ist immer möglich und ist Grundbestandteil der menschlichen Existenz. Einen zeitlich und räumlich und populationsbezogenen Komplex aus einzelnen kulturellen Traditionen bezeichnet man als Kulturom bzw. Kultur. Und hier sind wir noch im Bereich anthropolgischer bzw. kulturanthropologischer Begriffe und Aussagen. Der Begriff der Hochkultur wie auch der Zivilisation ist dagegen ein Begriff aus der Geschichtswissenschaft.

Er bezeichnet jene spezifisch regional und nur phasenweise auftretenden menschlichen Kulturen, die als auffälligstes Kennzeichen eine extrem hohe Intensität und Kreativität haben sowie über längere Zeit hinweg einen durchschnittlich konstanten Populationsbestand von vielen Millionen Individuen. Im geläufigen Sinne sind es die alten und neueren Hochkulturen im Nahen und Mittleren Osten, in Indien und Südostasien, in China, in Amerika sowie im Abendland. Spengler, Frobenius und andere haben für dieses Phänomen der Hochkultur noch eine Morphologie entwickelt (s.u.), Weiner hat deren genaue zyklische Struktur erhellt (noch nicht veröffentlicht).

Wenn Du, werter Herr Schneider, mit Deiner Frage auf einen Qualitätsunterschied zwischen Kultur und Hochkultur und Zivilisation zielst, so würde ich sagen: den gibt es nicht. Das Kunstwerk (ein echtes ....) eines Maori ist genauso viel 'wert' (den spekulativen Kunstmarkt mal beiseite gelassen ..) wie das Kunstwerk eines Leonardo da Vinci. Letzterer jedoch war Teil eines Hochkultursystems (Abendland II, von 500 n.Chr. bis 2500 n.Chr.).

Die Morphologie eines Hochkultursystems lässt sich anschaulich machen wiederum mit einem Vergleich zum Tierreich. Spengler hat die unterschiedlichen Entwicklunsphasen mit den Jahreszeiten verglichen. Aus einer mehr 'organischen' Sichtweise könnte man den Gestaltwandel der Insekten als Analogie heranziehen, wo wir beispielsweise Ei/Embryo, Larve, Puppe und fertigen Falter haben. Im Stadium des Falters laufen keine Entwicklungsprozesse mehr ab, nur noch Zeugungs, Reparatur- und Alterungsprozesse. Dem entspricht im Hochkulturprozess die Zivilisationsphase. Sie kann sehr lang sein, tausend Jahre sind kein Problem.

In der Zivilisationsphase wird einfach nur das bereits erschaffene Kulturinventar tradiert (und nur noch wenig kreativ bzw. innovativ verändert). Am Ende existiert das Kulturgut nur noch als Gewohnheit, oft wird es zum Aberglauben, zum lebenden Fossil, zum Relikt. Und dann geht es verloren oder wird vernichtet. Von den bösen Eroberern. Oder ein anderer Vergleich: während eines Kulturzyklus läuft der Motor eines Containerschiffes auf Hochtouren und es strebt nach einem Ziel - wenn der Motor aber aus ist, stampft es aus seiner Massenträgheit heraus noch einige Kilometer durch die See, bis es am Ende nur noch hin- und herschaukelt und zum Spielball der Wellen wird. Und die einzelnen Container fallen nacheinander ins Wasser. Seeräuber kann es auch geben ...

Die Entwicklung eines Handys als technisches Gerät ist eine hochkulturelle Leistung. Der Gebrauch eines Handy ist Zivilisation. Um Deine eigentliche Frage also zu beantworten: Hochkultur im geschichtlichen Sinne ist nur möglich in einem sozial und arbeitsteilig differenzierten und dynamischen, lebendigen (!) System. Ich kenne in der Geschichte keine Hochkultur, die nicht durch Überlagung (im einfachsten Falle Krieger und Bauern, wie beschrieben) zustande gekommen wäre. Falls jemand ein System zu kennen glaubt, bitte unbedingt melden!! Insofern die Überlagerung streckenweise und aus einem anderen Blickwinkel betrachtet als Parasitismus angesehen werden kann, könnte man also sagen, dass ein Hochkultursystem ohne diesen Überlagerungsparasitismus, d.h. ohne das Herauskitzeln (um auf Deine Frage zurückzukommen) nicht entstehen kann. Fünf germanische Stämme des Jahres 9 n.Chr. können sich vielleicht zusammenschließen, um die Römer aus ihrem Land zu vertreiben. Aber sie können sich nicht zusammenschließen, um eine Mondlandung zu organisieren. Da braucht es eine andere Hochspannung und Intention. Und sehr viel Zeit.

[Am chinesischen Hochkultursystem, das von 1750 v.Chr. bis 250 n.Chr. dauerte, kann man beobachten, wie Überlagungen, d.h. Eroberungen in der zivilisatorischen Phase aussehen. Spätere, von außen eingedrungene Herrscher wie etwa die Mongolen können aus einem Zivilisationssystem, weil es intern sehr strukturiert ist und viele eigene Kulturtraditionen besitzt, sehr viel mehr Leistung herausholen als wenn sie nur, Blick nach Westen, ein paar Slavenstämme an Dnjepr und Wolga, Don und Moskwa sich unterwerfen.]

Das Hochkultursystem, wiewohl es über weite Strecken nach einem Ökosystem ausschaut (man denke etwa, wie viele europäische Individuen, Völker und Staaten über Jahrhunderte miteinander und gegeneinander konzertierten!!), ist in Wirklichkeit ein SUPERORGANISMUS, ein Lebewesen ganz neuer Art. Es ist für mich Ausdruck eines transzendenten geistigen Prozesses. Vielleicht gibt es das Hochkultursystem also nur beim Menschen. Obwohl: manche Biologen sprechen auch von einem "Geist der Bienen" (Lars Chittka) und vom BIEN (= Bienenvolk) als einem Superorganismus. Aber sie wissen nicht, was der 'Geist' ist, weder der der Bienen, noch der der Menschen, noch was der Geist an sich ...

Mit geistigen Grüßen, Weiner


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