Chocartige Umkehrpunkte: Von Vincent van Gogh und Toyosaku Saïtō …

Ostfriese, Montag, 07.04.2025, 17:30 (vor 5 Tagen) @ b.o.bachter1350 Views
bearbeitet von Ostfriese, Montag, 07.04.2025, 17:34

Hallo b.o.bachter

Tja, schade drum. Anderseits: Dennoch ist bisher nichts Besseres aufgekommen und so bin ich froh, dass es uns noch gibt. In diesem Sinne: Wohlan, weiterhin frei von der Leber frisch an´s Werk!

Exakt

Roland Barthes hat in seinem Buch Die helle Kammer im Zusammenhang mit Betrachtungen über die Photographie und Malerei die Begriffe Studium und vor allem Punctum und Choc, deren Bedeutungen schon vor mehr als 63 Jahren in meinem Kunstunterricht thematisiert wurden, eingeführt.

Ein Punctum – ein Choc – befindet sich in Vincent van Goghs Gemälde Holzsammler im Schnee – eine in kalte Farben getauchte Winterlandschaft. Wir sehen die Dynamik an ihren Beinen, an ihren gesenkten Blicken auf den schneebedeckten Boden, die dort Festigkeit für die Füße suchen und an dem angedeuteten Trichter, der durch die waagerechte Linie in der Bildmitte und der angedeuteten schrägen - die Perspektive betonenden - Geraden der Sträucher links unten und der Richtung der Reisigbündel oben ansatzweise gebildet wird. Der Blick wird durch das chocartige Auftreten der untergehenden, letzte Wärme spendenden, Abendsonne als Punctum - als malerisch realer Umkehrpunkt - in das Bild wieder zurückgeholt.

[image] https://kultur-online.net/inhalt/japans-liebe-zum-impressionismus Vincent van Gogh: Holzsammler im Schnee, 1884. Öl auf Leinwand; © Courtesy of Yoshino Gypsum Co., Ltd. (deposited at Yamagata Museum of Art)

Ohne die rote Abendsonne wäre das Bild nur ein Studium von Holzsammlern in einer Winterlandschaft. Sie ist ein plötzliches chocartige Ereignis, das "bedeutet [auch]: Stich, kleines Loch, kleiner Fleck, kleiner Schnitt – und Wurf der Würfel. Das Punctum einer Photographie, das ist jenes Zufällige an ihr, das mich besticht (mich aber auch verwundet, trifft)." Das Punctum verändert also die Deutung des Gemäldes - hin zu einem Meisterwerk.

Toyosaku Saïtō war mit Claude Monet befreundet und rezipierte ab Anfang des 20. Jahrhunderts unter Beibehaltung überlieferten japanischer Prinzipien den Malstil der Impressionisten: Er arbeitete mit eher gedämpften Nuancen, was seine […] Arbeiten sanfter, eleganter und dekorativer erscheinen ließ. So erfuhr der Impressionismus eine Japanisierung.

Analog zu Vincent van Gogh's Gemälde Holzsammler im Schnee sehen wir in Toyosaku Saïtō's Werk die Schäferin - als Umkehrpunkt - mit ihren Tieren als Punctum – als Choc –, während in diesem Fall das Gebäude von der hinter den Hügeln untergehenden Sonne in warme Farben gehüllt wird.

[image] https://artinwords.de/japans-liebe-zum-impressionismus/ Toyosaku Saïtō, Fluss im Abendlicht, 1913, Öl auf Leinwand, 65,5 × 161 cm, The National Museum of Modern Art, Tokio

… über Paul C. Martin

in https://archiv.dasgelbeforum.net/ewf2000/forum_entry.php?id=2686 Re: DIE WELTWIRTSCHAFTSKRISE VON 1929 - EIN EINMALIGER FALL? verfasst von dottore, 25.05.2000, 13:39

Die Finanzkrise ab 2007 mit ihren nachfolgenden Entwicklungen war in der allgemeinen Wahrnehmung ein kollektiver ökonomischer choc. In Ermangelung eines individuellen intellektuellen Punktum - als Umkehrpunkt - konnten die Chefredaktionen, Unternehmensleitungen und Wissenschaften ihre bisherigen in der aristotelisch-parmenideischen Sprache abgefassten ökonomischen Deutungsversuche, die ja nur Studien waren, nicht überzeugend revidieren - sie sind alle ihren überlieferten Paradigmen verhaftet geblieben. Rot markiert m. E. die Umkehrpunkte.

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So lautete die gestrige Sendung auf Arte. War hoch interessant, jedoch blieben bei mir einige Fragen offen.
Wer hat die Sendung auch gesehen?

Habe die Sendung leider auch nicht gesehen.

1929 ist durchaus kein einmaliger Fall wie die Wirtschaftsgeschichte lehrt. Nehmen wir Beispiele aus längst vergangenen Zeiten:

1. Der Crash des Jahres 30 n. Chr. unter Tiberius. Ablauf: Augustus pumpte mit dem Gold aus Ägypten die römische Wirtschaft gewaltig auf (was er alles Gutes für das Imperium tat, hat er uns in der berühmten Inschrift in Ankara hinterlassen: "Ich zahlte... Millionen Sesterzen für..., dann zahlte ich... Millionen für...", usw.). Es begann ein gewaltiger Aufschwung, der alsbald in einer aberwitzigen Schuldenorgie ihren Höhepunkt fand (zum Überschuldungsproblem im alten Rom siehe u.a. als Klassiker das Buch von Ferrero, antiquarisch zu erhalten). Dann ging das Geld (Gold) zur Neige und Nachfolger Tiberius war zu einem strikten Sparkurs gezwungen. Resultat: Sinkende Zinsen, mit entsprechender Finanztitel-Hausse. Als die Hausse ausgelaufen war, drängten die Gläubiger auf Zahlung. Die Preise fielen, vor allem für Grundbesitz. Tiberius verordnete daraufhin ein Gesetz, wonach die Reichen gezwungen wurden, Geld in Immobilien anzulegen, um deren Preise zu stützen. Als der Senator Publius Spinther bei der Bank der Herren Balbus & Olbius wollte, erklärte die Bank Konkurs und alsbald waren alle wichtigen Unternehmen des Reiches pleite (vgl. die Darstellung bei Durant, Kulturgeschichte der Menschheit). Tiberius stand unter Schock und traute sich nicht mehr von seinem Amtssitz auf Capri zurück nach Rom.

2. Der Crash in den 1550er Jahren in Europa. Ursache zunächst die gewaltigen neuen Silberfunde (Sachsen: Erzgebirge, Nordböhmen, Tirol usw.). Der Staat überschuldete sich und einer der Fugger schrieb: "Der Creditoren sind so viele, dass es einem graust". Dann erklärten sich Frankreich und Spanien für fallit. Der deutsche Kaiser Karl V. war von den Geldprobleme so angewidert, dass er sich in ein Kloster im Estremadura zurückzog. Anschließend brachen die Finanzmärkte der großen flandrischen Städte zusammen und eine schwere deflationäre Depression überzog die Lande.

3. Frankreich 1720. Ludwig XIV. war mit De-Facto-Bankrott abgegangen, sein Nachfolger als Staatschef (der Kronprinz war zu jung), der Herzog von Orleans, nahm sich der Gedanken des John Law an: Monetarisierung der Staatsschulden, Riesen-Hausse (Mississippi-Schwindel), dann der unvermeidliche Zusammenbruch. Law ins Exil, Frankreich im Elend der deflationären Depression.

4. Bismarckzeit. Nach dem Segen der Kriegsentschädigungen ex Frankreich nach dem gewonnenen 1870er Krieg gewaltige Gründer-Hausse in Deutschland, die Berliner Börse hatte damals mehr Titel als heute Frankfurt incl. Neuer Markt. Kredit-Orgie, dann via Wien fehlgeschlagene Weltausstellung der Krach an der Börse. Anschließend die Depression der Bismarckzeit, die Preise fielen bis Mitte der 1890er Jahre. Aufstieg der Sozialdemokratie, Niedergang der Liberalen, Schutzzölle, und das übliche Programm.

Jederzeit können weitere Beispiele nachgeliefert werden. Der Ablauf ist immer derselbe: Erster Anstoß (fresh money erscheint). Dann Kreditorgie (Staat und Private). Sachwerthausse. Dann Nachlassen der Zusatznachfrage, Disinflation. Finanztitelhausse wg. sinkender Zinsen. Dann kredit- und New-Economy/Gründerzeit usw. -getriebener Bubble. Der platzt. Die Guthaben, die den vordem gemachten Schulden entsprechen, wollen jetzt bedient werden. Scharfe Kontraktion, Finanztitel-Baisse, Wealth-Effect (ex - zumeist nicht realisierten - Aktiengewinnen) verflüchtigt sich. Ales versinkt im Mahlstrom sinkender Kurse, Preise, Werte. Ausweglose Lage. Ende der deflationären Depression erst, nachdem die alten Schulden (Guthaben) ausgebucht sind oder sich per Crash (Banken usw.) verflüchtigt haben. Dann Start zur nächsten Runde...

Und ganz genau so wird es jetzt wieder kommen. Nur GEDULD. JüKü hat in seinen Texten (lesen! lesen!) alles Notwendige dazu klargestellt. Merke: Keine Depression ohne vorangegangene Prosperität (Clément Juglar), keine Inflation ohne nachfolgende Deflation.

Die Notenbanken könnten (!) etwas tun, indem sie Geld via Nullzins ins Land pumpen (ging gerade in Japan schief) oder indem offen zum Notendruck übergangen wird (funktionierte 1930/32 nicht, weil die Sparer, gerade erst von der Hyperinflation bedient, sonst alles abgehoben hätten mit sich logischerweise anschließendem Bankencrash, vgl. die Forschungen von Knut Borchardt dazu).

Sapienti sat.

d.

P.S.: Die angesprochenen offenen Fragen werden gern beantwortet - bitte ins Forum stellen. Danke.

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… zu @Ashitaka.

Die vollständige Darstellung des debitistischen KGS im hermetischen Bewusstsein ist viel schwerer greifbar und formulierbar. Die Jahrzehnte langen ständig zu refinanzierenden Laufzeiten der - der ZB zwecks Geldschöpfung angedienten - Anleihen schaffen erst die Möglichkeiten für immer kürzer werdende Laufzeiten der - sie gleichzeitig auch vor dem Zins- und Tilgungsausfall schützenden – privaten Kredite - die ja nicht schneller steigen als die des Staates - an die Realökonomie.

In solchen Zeiten gilt: Cash ist King! - wie Warren Buffet wohl beherzigt, dessen Bargeldbestand in seiner Investmentfirma am heutigen Tag 321 Milliarden US-Dollar (293 Milliarden Euro) beträgt.

@Ashitaka in

https://www.dasgelbeforum.net/index.php?id=615389 Geld kauft eben nur einmal! Ashitaka, Donnerstag, 04.08.2022, 11:35 @ Ostfriese4773 Views

Das werden die Menschen erst wahrhaben, wenn der Umkehrpunkt im Großen durchlaufen wurde und die ersten Schübe ihre gewaltigen Preiskorrekturen am Finanz- und Immobilienmarkt mit sich bringen. Dass es so kommt steht außer Frage. Das Preis- und Zinsgefüge blockiert global die Auftragspotentiale der industriellen Schwergewichte, macht es den Konsumenten am kreditbasierten Anfang und Ende des Geld-/Machtkreislaufes unmöglich, die Angebote abzuräumen, zu finanzieren, weiter zu träumen.

Kann der hermetische Umkehrpunkt näher bestimmt werden?

Gruß - Ostfriese


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