Das Sittengesetz

Weiner, Dienstag, 16.07.2024, 23:49 (vor 53 Tagen) @ Dieter1185 Views

Hallo Dieter -

ich weiß durchaus, was Du meinst bzw. auf was Du hinaus willst.

In Artikel 2 GG, Absatz (1) steht geschrieben:

Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.

In der Staatstheorie (!!) gibt es eine Auffassung, dass der Staat nur einen überschaubaren, relativ kleinen Bereich des Zusammenlebens regeln sollte (etwa dort, wo es ums Gemeinwohl geht). Nach dieser Auffassung wäre es beispielsweise unnötig, dass der Staat die Form regelt, mit der wir uns gegenseitig begrüßen (-> "Hitlergruß"). Die Vertreter dieser Auffassung vom Staate sind der Ansicht, dass zwischen einigermaßen normalen und gesunden Menschen gute Umgangsformen sich etablieren können, die eine Gesellschaft allein schon stabilisieren, ohne dass der Staat eingreift. Der Ethnologe Amborn ist (aufgrund seiner Beobachtung an ostafrikanischen Stämmen) so weit gegangen zu sagen, dass wenn das Sittengesetz perfekt ist (zB. gewählte Richter und Älteste hat) und von allen befolgt wird, man sich den Staat sparen könne (Buchtitel: Das Recht als Hort der Anarchie). Die Väter und Mütter des Grundgesetzes wußten das auch noch und haben deswegen diesen Artikel so formuliert.

Die Ausgangsfrage in Deinem ersten Beitrag bezog sich auf die so genannten Menschenrechte, und dazu hast Du jetzt weitere Details gebracht. Ich fasse es so auf, dass diejenigen, die das Phänomen "Menschenrechte" in die politische Diskussion eingebracht haben (bereits 100 Jahre vor der französischen Revolution etwa der deutsche Samuel Pufendorf **), damit den Versuch unternahmen, einen Teil des allgemein menschlichen Sittengesetzes zu 'kodifizieren'. Dadurch wurde es verfügbar für die politische Diskussion und Argumentation. In Konsequenz dieser Auffassung wurden die Menschenrechte dann als "Grundrechte" in das GG aufgenommen. Sie sind damit wie das Sittengesetz Element einer Rechtssphäre, die der Verfassung und den (unter der Verfassung) erlassenen Gesetzen vorausgeht. Das Sittengesetz und die Menschenrechte überwölben die Verfassung, die Gesetze und das exekutive Handeln.

Wenn staatliche Organe und Politiker solche vorgängigen Rechte nicht respektieren (wie das zB. während Corona der Fall war), dann haben sie - gemäß dieser Auffassung von Naturrecht und Staatsrecht - ihre Legitimität zweifellos verloren.

Gegen Deine Differenzierungen und Definitionen (Legitimität und Legalität) ist so gesehen nichts einzuwenden.

Das Entscheidende jedoch ist und bleibt: wenn der Bürger gegen entsprechenden Mißbrauch und Verstoß nicht einschreitet, sind alle derartigen Gedankengänge komplett nutzlos.

Die Unterwerfung (im Zwangsstaat) findet nicht nur bei der Staatsgründung statt sondern in jedem Augenblick seiner Geschichte.

Es hat den Anschein, dass es nur drei Optionen gibt: (1) ich werde Teil der Macht, (2) ich kämpfe gegen die Macht (hoffe auf Sieg, riskiere aber den Tod), (3) ich unterwerfe mich der Macht.

Ich glaube, dass die Menschheit weitere Optionen hat. Ist aber ein Lernprozess. Der braucht Krisen.

Grüße, Weiner

**)

https://www.geisteswissenschaften.fu-berlin.de/we01/forschung/schriften/sb2pufendorf/in...

wird bestritten (m.E. zu Unrecht) von Sibylle Müller in ihrer Dissertation: Gibt es Menschenrechte bei Samuel Pufendorf?


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