Die Waage ist nicht mehr austariert
Lieber Helmut,
vielen Dank für Deine Gedanken! Was das Leben in den 70er und 80er Jahren in Deutschland angeht, möchte ich Dir größtenteils zustimmen, diese Zeit habe ich ganz ähnlich in Erinnerung, ich würde sogar noch weiter gehen und - mit Abstrichen - sogar die 90er Jahre noch mit hinzu rechnen.
Eine erste Veränderung habe ich damals bei der Wiedervereinigung Deutschlands 1989 wahrgenommen, irgendwie war danach die Stimmung im Westen verändert, ich kann allerdings nicht richtig beschreiben, wie. Diese war für mich aber nicht so gravierend, als dass ich mir darüber große Gedanken gemacht hätte. Mit der DDR hatte ich bis dato nichts am Hut gehabt, ich war bis zum Fall der Mauer niemals drüben gewesen und kannte die Zustände dort nur aus den Medien. Ich hätte Schwierigkeiten gehabt, verschiedene ostdeutsche Städte auf einer Landkarte zu finden. Ich war im Vergleich zu heute jung, naiv und habe der Einheit keine große Bedeutung für mein Leben zugemessen - mit anderen Worten: das epochale Ereignis der europäischen Geschichte war mir damals ziemlich egal!
Eine weitere, diesmal nach meinem Empfinden gravierendere Änderung, vollzog sich in meinen Augen 1998 mit dem Ende der Ära Helmut Kohl und der Regierungsübernahme von SPD und Kanzler Gerhard Schröder. Ich hatte damals selber SPD gewählt, weil ich mit dem, was nach der "Wende" in Deutschland passierte, nicht einverstanden war und mir dringend Veränderungen wünschte. Dem damaligen "Gespann" Schröder-Lafontaine traute ich viel zu und hoffte, gerade auch im Hinblick auf Lafontaine, auf eine Politik der Erneuerung und Verbesserung. Als schon kurz nach dem Wechsel Lafontaine die Bühne verließ und Schröder mit seiner "Agenda 2010" Politik machte, war ich konsterniert, weil anschließend nichts von dem umgesetzt wurde, was ich mir vorher versprochen hatte.
Die grundlegendste Veränderung war für mich der Beginn der Ära Merkel 2005. Und hier liegt für mich auch die Wurzel dessen, was Du der Generation 70+ zur Last legst, wenn Du deren vermeintliche oder meinetwegen auch tatsächliche Trägheit als Grund benennst, warum es zu der heutigen Situation kommen konnte.
Die Politik in der Bundesrepublik Deutschland war in den Jahrzehnten nach Adenauer geprägt von einem relativ fein austarierten Gleichgewicht zwischen konservativer ("rechter") und progressiv-sozialer ("linker") Politik. Wenn die "Rechten" in ihrer Regierungszeit dem Kapital zu viele Zugeständnisse gemacht hatten, sorgten die Wahlen dafür, dass im Anschluss die "Linken" die Waage wieder einigermaßen ins Gleichgewicht zu rücken. Ab den späten 70ern gelang dies im Zuge der immer stärker werdenden neoliberalen Kräfte allerdings zunehmend weniger, aber dies ist eine andere Geschichte.
Mit Merkel vollzog sich im Laufe der Jahre eine für mich deutlich spürbare Veränderung der CDU von einer ehemals konservativen Partei hin zu einer Gruppierung, die ich heute - ich sage es mal sehr vorsichtig - nicht mehr als konservativ betrachte (mehr will ich an dieser Stelle nicht sagen, weil ich keine Post einer Rechtsanwaltskanzlei in meinem Briefkasten haben möchte).
Wie dem auch sei, aus meiner Sicht war es vor allem diese Veränderung, die das fein austarierte Gleichgewicht in Deutschland fundamental in eine Richtung bewegt hat, was sich in der Folge in den gravierenden Änderungen niederschlug, wie wir sie seit vielen Jahren erleben (die Flüchtlingskrise 2015 war diesbezüglich ein weiterer Meilenstein).
Natürlich kann und muss man die Trägheit, Apathie und das Desinteresse der Menschen 70+ als Begründung anführen, aber dieses Verhalten trifft eben auch auf Menschen zu, die deutlich jünger sind.
Für mich sind es vor allem politische Weichenstellungen flankiert von einem immer stärker werdenden Einfluss der Medien auf die Meinung in der Bevölkerung, der mit Internet und Smartphone in ganz neue Sphären aufgestiegen ist.
Nochmals vielen Dank, dass Du uns an Deinen Gedanken hast teilhaben lassen!
Viele Grüße, Otto
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"Eine Gesellschaft befindet sich im vorübergehenden oder finalen Verfall, wenn der gewöhnliche, gesunde Menschenverstand ungewöhnlich wird."
William Keith Chesterton