...weiß auch nicht, ob es hier passt. | Mal wieder Egon Friedell, diesmal zu Jesus | auch für @Weiner wg. Textstellen
"Jesus und die »soziale Frage«
Hieraus ergibt sich auch mit vollkommener Deutlichkeit die Stellung Jesu zur »sozialen Frage«. Allerdings hat er die Armen den Reichen vorgezogen, indem er sagte, ein Reicher könne nicht ins Himmelreich kommen. Aber dieser Ausspruch hat durchaus keine sozialistische Pointe. Die Armen kommen eher ins Himmelreich als die Reichen, weil bei ihnen die Vorbedingungen für ein göttliches, dem Mammon abgewendetes Leben günstiger sind. Ein Reicher wird sich, ob er will oder nicht, mit seinen irdischen Gütern befassen müssen; der Arme ist in der glücklichen Lage, solche von Gott ablenkende Dinge nicht zu besitzen. Der Sozialismus will aber, ganz im Gegenteil, die Armen allmählich in die Vorteile einsetzen, die heutzutage nur die Reichen genießen; und er will, daß jeder Mensch, ob arm oder reich, arbeite. Jesus hingegen stellt die Lilien auf dem Felde und die Sperlinge auf dem Dache als Vorbilder hin. Er weiß, daß im »Segen der Arbeit« ein geheimer Fluch verborgen ist: die Gier nach Geld, nach Macht, nach Materie. Der Sozialismus will die Armen reich machen, Jesus will die Reichen arm machen; der Sozialismus beneidet die Reichen, Jesus bedauert sie; der Sozialismus will, daß womöglich alle arbeiten und besitzen, Jesus sieht den idealen Gesellschaftszustand darin, daß womöglich niemand arbeitet und besitzt. Das Verhältnis des Heilands zur sozialen Frage besteht also darin, daß er sie einfach ablehnt. Für ihn sind Dinge wie Güterverteilung, Besitz, gerechte Ordnung der Erwerbsverhältnisse das, was die Stoiker ein »Adiaphoron« und die Mathematiker eine »quantité négligeable« nennen: sie gehen ihn gar nichts an. Er erblickt seine Mission darin, die Menschen zum Göttlichen zu führen; ein »sozialer Reformator« hat es aber immer nur mit der Welt zu tun. Es ist daher die größte Blasphemie, die man gegen Jesus begehen kann, wenn man ihn in eine Reihe mit jenen Zwerggeistern stellt, die die Menschheit auf nationalökonomischem Wege erlösen wollten. Er ist von allen diesen nicht dem Grad, sondern der Art nach verschieden. Seine Wohltaten waren geistige, nicht materielle, und man kann ihn mit solchen Volksmännern überhaupt gar nicht vergleichen, so wenig wie etwa die Schöpfungen eines Dante oder Plato mit denen eines Marconi oder Edison. Jesus hat niemals gegen jene Mächte gekämpft, die der Gegenstand moderner Sozialpolemik sind, wie Bourgeoisie, Bürokratismus, Kapitalismus und dergleichen, weil ihm alle diese Dinge viel zu gleichgültig waren. Er hat immer nur einen Feind erbittert bekämpft: den Teufel im Menschen, den Materialismus. Aber unsere aufgeklärte Zeit glaubt ja nicht mehr an den Teufel, weil sie ihm derart verfallen ist, daß sie ihn gar nicht mehr sieht; und der »Geist« des Materialismus herrscht heute unter den Enterbten genau so wie unter den Besitzenden. Die einen haben Geld, die anderen haben noch keines; aber um Geld dreht es sich hier wie dort. Heute würde Jesus nicht mehr sagen: »Selig sind die Armen«, denn diese sind heute ebenso unselig geworden wie die Reichen: dank den sozialistischen Theorien, die die degenerierte Plattheit unserer Tage aus seinen Worten herausgelesen hat.
Ganz ähnlich verhält sich Jesus zum Staat. Er hat zwar gesagt: »Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist«, aber auch hier ist es wiederum die tiefe Geringschätzung irdischer Satzungen und Einrichtungen, aus der heraus er dieses Gebot aufstellt. Er empfiehlt, ruhig die vorgeschriebenen Steuern zu zahlen, weil es nicht der Mühe wert ist, sie zu verweigern; denn die Kinder Gottes haben sich um Höheres zu sorgen als um derlei niedrige Politika. Nur ein Mensch ohne Ohr für Nüancen und Untertöne kann die tiefe Ironie verkennen, mit der der Heiland über diese Fragen spricht, sooft er sie berührt. Einen zweifellos ironischen Charakter trägt auch seine Antwort: »Du sagst es« auf die Frage des Pilatus: »Bist du der Juden König?«: er hält es offenbar für seiner unwürdig, auf solche platte Mißverständnisse überhaupt einzugehen; nach Johannes gibt er jedoch eine kurze Erklärung ab, die den Statthalter darüber unterweist, daß er wohl ein König sei, aber ein ganz anderer, als die niedrige Fassungskraft der jüdischen Hierarchen sich vorzustellen vermag.
Die durchgängige Haltung Christi ist ganz einfach die, daß er alles Menschengeschaffene bis zur Lächerlichkeit gleichgültig findet. Dies ist auch seine Ansicht über Ehe und Familie. Ja noch mehr: er verwirft sie, aber in jener milden duldsamen Art, die den anderen nur das Richtige als Ideal zeigt, ohne es ihnen, wenn sie dafür noch nicht reif und frei genug sind, aufzwingen zu wollen. Das Wort Jesu an seine Mutter: »Weib, was habe ich mit dir zu schaffen?«, wohl mehr erstaunt als erzürnt gesprochen, ist eine ungeheure Verlegenheit für die bürgerlichen Theologen, über die sie gern mit ein paar nichtssagenden Redensarten hinweggleiten. Als man ihm meldet, daß seine Mutter und seine Brüder mit ihm zu reden suchen, antwortet er nach Matthäus: »Wer ist meine Mutter und wer sind meine Brüder?« und, indem er seine Hand über seine Jünger ausstreckt: »Siehe da, meine Mutter und meine Brüder!« Eine ebenso deutliche Sprache redet die Mahnung: »So jemand zu mir kommt und hasset nicht seinen Vater, Mutter, Weib, Kinder, Brüder, Schwestern, auch dazu sein eigenes Leben, der kann nicht mein Jünger sein.«
Was also die wahrhaft christliche Auffassung aller dieser Dinge ist, geht aus den Evangelien für jeden, der sie mit gesundem Verstand und reinem Gefühl zu lesen vermag, ganz unzweideutig hervor. Die Pastoren, die den Rabbinern an Talmudismus nichts nachgeben, haben natürlich versucht, alle diese Äußerungen zu verdrehen, zu verschleifen und in ihr Gegenteil zu kommentieren, und man kann ja in der Tat aus der Bibel alles herauslesen, was man will, wenn man es an der nötigen Aufrichtigkeit oder Unbefangenheit fehlen läßt: es hat ja sogar der General von Bernhardi, einer der hervorragendsten Lehrer der Strategie, aber kein ebenso begabter Bibelleser, in einem seiner Werke nachzuweisen versucht, daß Christus den Krieg gepredigt habe, denn er habe gesagt: »Ich bin nicht gekommen, den Frieden zu bringen, sondern das Schwert«: eine Auffassung, deren Widerlegung wohl überflüssig sein dürfte."
https://www.projekt-gutenberg.org/friedell/kulturg1/chap07.html
Herzlich
Oblomow