Konstanz und Veränderung in der Geschichte

Weiner, Donnerstag, 08.10.2020, 00:57 (vor 1907 Tagen) @ Oblomow1232 Views

Es gibt nichts Neues unter der Sonne - habe Rabbi Akiba mal gesagt. Heraklit dagegen, man könne nicht zweimal in den gleichen Fluss steigen. Liegen aber beide richtig. Denn die Welt ist ein kombinatorischer Prozess: was kann man aus den immer gleichen Legosteinen nicht alles bauen ...

Abgesehen von diesen grundlegenden Gegebenheiten bezüglich Konstanz und Veränderung muss, damit ein geschichtlicher Prozess stabil bleibt und nicht vom Winde verweht, irgendjemand für Dauerhaftigkeit sorgen. Nehmen wir die neuzeitlich europäische Geschichte, so waren das (von der Institution Kirche mal abgesehen) vor allem die 'Adelsgeschlechter', als Genpool (biologisch) und als Organisatoren (politisch, wirtschaftlich, sozial und kulturell). Wie man nun daran ging, den Adel abzuschaffen, war es schwierig, einen Ersatz zu finden. Hilfsweise gründete man allerhand Sozietäten, seien es nun Illuminaten, Scientific Societies, Parteien oder 'Unternehmen' - in der Hoffnung, die könnten über das einzelne Individuum hinaus längerfristig gewisse Ziele erreichen und Konstanz garantieren. Das hat aber nicht funktioniert. Und so sind wir jetzt in einem Wackelpudding angekommen. Vielleicht bildet er sogar Blasen. Und die Schüssel fällt vom Tisch ...

Irgendjemand hat vor einiger Zeit hier eingeworfen, dass wir uns an einer 'Bifurkation' befänden. Das ist richtig, und Bifurkationen sind immer sehr schlüpfrig. Deshalb spielt auch hier - also nicht nur bei der inneren Geschlossenheit einer umschriebenen Epoche - die Konstanz eine große Rolle. Über die Bruchstelle am Ende einer Epoche müssen gewisse Teile hinübergerettet werden. Ansonsten landet der Abzweig nach der Bifurkation sehr schnell im Nichts. Ein schönes Beispiel für so ein Hinüber-Retten war der Wiederaufbau in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg, nachdem die Produktionsstätten und Labore komplett zerstört oder abgebaut waren - aber das Wissen und der Wille waren noch in den Köpfen und Händen. Vietnam ist übrigens ein vergleichbares Beispiel - sehr beeindruckend.

Ich habe nicht gesagt, welche Elite ich meine. Die neureiche Geldelite ist es nicht. Ein Bindeglied über die kommenden Brüche hinweg ist aber nötig. Deswegen möge sie, die ich meine, lange leben.

Noch ein paar Details zum vorigen Beitrag: Nervenzellen können sehr lang werden, vom Kleinhirn bis in die Wade, über ein Meter; und sie werden sehr alt, 100 Jahre liegen drin. Das ist erstaunlich, wenn man es mit Epithelgewebe vergleicht, welches nur ein paar Tage oder Wochen alt wird. Wie hält ein komplexer Organismus seine Struktur konstant? Wenn Du Dir das Bild von Adolf im Alter von 5 Jahren anschaust, dann wirst Du ähnliche Proportionen im Gesicht erkennen wie später noch im Führerbunker. Man müsste sagen: er ist es! Der Gentest würde es bestätigen. Und der Teufel weiß es auch.

Das Geheimis des Universums ist nicht die Einheit - die ist zweifelsfrei - sondern die Harmonie seiner Vielfalt - die ist unklar.

[Mir wenigstens. Im Augenblick noch. Muss aber irgendetwas mit Primzahlen, d.h. Teilbarkeiten, und Kraftvektoren zu tun haben].

Beckett hat einen schaurigen Text geschrieben (Le dépeupleur), der so anfängt:

"Eine Bleibe, wo Körper immerzu suchen, jeder seinen Verwaiser. Groß genug für vergebliche Suche. Eng genug, damit jegliche Flucht vergeblich. Es ist das Innere eines niedrigen Zylinders mit einem Umfang von fünfzig Metern und einer Höhe von sechzehn wegen der Harmonie. Licht. Seine Schwäche. Sein Gelb. Sein Überallsein als ginge von jedem der rund achtzigtausend Quadratzentimeter ein eigener Schimmer aus. Das es bewegende Keuchen."

Wer weiß, dass Beckett das hiesige Schtuagert gemocht und die Neckarstrasse ebenda sogar bedichtet hat?

„Der Anreiz des Nichts ist dort nicht mehr das
was er einmal war, weil man eben
den sehr starken Verdacht hat
mitten darin zu sein.“

Jetzt müsste ich eigentlich noch der Nervensäge antworten. Aber ich bin zu müde. Und glaube, dass sie mich versteht; ich sowieso sie. Und gut is.

Seufz, Weiner


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