Hauch von Beliebigkeit

Falkenauge, Sonntag, 08.10.2017, 16:17 (vor 2628 Tagen) @ Loki3647 Views

Moin Loki,

Deine "kleine Auswahl von Einwänden" enthält aber viele Punkte, auf die ich in diesem Rahmen hier nicht alle eingehen kann. Insbesondere Deine Ausführungen zu den genannten Philosophen würden ja weiter ausholende Exkursionen nötig machen.

Was mir an Deinem Artikel auf Fassadenkratzer nicht gefällt, ist dieser
Hauch von Beliebigkeit bei der Verwendung einzelner, aber zum gegenseitigen
Verständnis wichtiger Worte.

Konkret geht es mir um Begriffe wie "Denken" oder gar "reines Denken",
"Verstand", "waches ~", bzw. "schauendes Bewusstsein" und die Frage, was
eigentlich zuerst da war: Empfundene Kräfte oder das Reflektieren des
Verstandes über die empfundenen Kräfte?

Meine Logik sagt: Zuerst muss Erlebtes da sein, damit ein aufnahmebereites
Bewusstsein darüber nachdenken kann. Dazu muss aber m.E. das "alltägliche
Bewusstsein" zuerst "schlafen gehen", damit die Intuition "erwachen" kann
und dann sind wir schon bei der ersten Begriffsverwirrung, wenn bei
"Wachheit" kein Konsens gefunden werden kann: Was ist "waches Bewusstsein",
bzw. ist das Bewusstsein eines in tiefe Meditation versunkenen Menschen
wach?

Konkret stören mich zum Beispiel folgende Sätze:

Unser waches Bewusstsein wird durch das Denken gebildet. Nur in den

klaren Begriffen und Ideen des Denkens sind wir hellwach. Alles andere
bleibt außerhalb des Denkens dunkel und unbekannt und wird erst von ihm
beleuchtet und in das Licht des Bewusstseins gehoben.
Sie stören mich deswegen, weil m.E. "Denken" mit Bewusstseinsbildung rein
nichts zu tun hat, denn wenn ich an einem Bach sitze, lausche und ins
Wasser schaue - ohne zu denken - kann ich wacher und bewusster empfinden,
was ich gerade erlebe, als wenn ich am Bach sitze und grüble.

Etwas anderes ist es dann natürlich, das Erlebte in Worte fassen und
mitteilen zu wollen, dann brauche ich meinen Verstand, um für das Erlebte
Worte zu finden und diese inneren Prozesse äußern zu
können.

So gesehen ermöglichen die Gedanken und der Verstand lediglich ein
"begriffliches" Begreifen, haben aber mit dem Bewusstsein und
tief-empfundenem Verständnis meist nur wenig zu tun.

Das Grundproblem des Verstehens liegt darin, dass Begriffe und Worte zwei verschiedene Dinge sind. Begriffe werden innerlich im Denken erfasst und - hoffentlich - erlebt, können aber nur durch das Kleid der Worte nach außen ausgedrückt und vermittelt werden. Das heißt, die Worte müssen den Hörenden oder Lesenden anregen, die gemeinten Begriffe im eigenen Denken selbst hervorzurufen und zu erleben. Da erweisen sich die Worte oft als unzulänglich. Es ist zumeist ein größerer Kontext, eine gedankliche Entwicklung und sprachliche Charakterisierung nötig, die in einem relativ kurzen Artikel nicht zu leisten ist, der daher eigentlich nur hinweisenden Charakter haben kann.

Natürlich, zuerst muss Erlebtes da sein, damit ein aufnahmebereites Bewusstsein darüber nachdenken kann. Du schreibst: „Wenn ich an einem Bach sitze, lausche und ins Wasser schaue - ohne zu denken - kann ich wacher und bewusster empfinden, was ich gerade erlebe, als wenn ich am Bach sitze und grüble.“

Das wache und bewusste Empfinden ist immer schon vom Denken durchdrungen, sonst wäre es nicht wach. Es ist ein aufmerksames, erwartendes Denken. Nur richtet es sich anfänglich auf die Phänomene in ihrer Reinheit, um alle Nuancen zu erfassen und zu empfinden, was aber auch schon eine gewisse punktuelle begriffliche Bestimmung bedeutet. Ich kann dabei stehen bleiben, oder mich auch weiter drauf konzentrieren, welche tiefer gehenden Begriffe und Begriffszusammenhänge sich einstellen, die das Wahrgenommene noch weiter ins Bewusstsein heben.

Mit reinem Denken dagegen ist ein Denken gemeint, das sich auf Begriffe und Ideen bezieht, die kein physisch wahrnehmbares Korrelat haben. So handelt es sich in der Mathematik um reines Denken. Die quantitativen Gesetzmäßigkeiten sind nicht in physischen Wahrnehmungen begründet, sondern werden im reinen Denken gefunden und dann erst auf die physische Welt angewendet.
Auch Begriffe wie Freiheit und Gleichheit sind Ideen des reinen Denkens, denen in der physischen Welt nichts entspricht, das nicht der Mensch aus diesen Begriffen erst geschaffen hat.

Ebenso ist natürlich der Begriff des „reinen Denkens“ selbst ein Begriff des reinen Denkens, indem es sich auf sich selbst wendet. Auch das „Ich“ als unser innerstes Wesen, das man vom Ego, vom Alltags-Ich unterscheiden muss (vgl. dazu hier), ist nicht physisch wahrnehmbar, sondern nur im reinen Denken erfassbar, worauf gerade Fichte Erhellendes geleistet hat.

Das reine Denken, das sich auf sich selbst richtet, blickt zugleich in den Ursprung, aus dem es hervorquillt: mein Selbst. Wir kommen sozusagen flussaufwärts zur Quelle, zum lebendigen Wesen, aus dem das Denken als seine Wesensäußerung strömt und sich dadurch selbst hervorbringt. Und indem es Lebendig-Wesenhaftes wie unser Selbst erlebt, wird es zum lebendigen reinen Denken.
Zu ihm erheben wir uns nur durch reine aktive Willenstätigkeit; es ist eine in der Denkbetätigung selbst dahin fließende Kraft, wie Steiner formuliert. Aus reiner, sich immer wieder aktualisierender Willenstätigkeit besteht aber auch unser wahres Ich. In der gebündelten Kraft des sich selbst ergreifenden und selbst haltenden reinen Denkens bringt sich das höhere Ich selbst hervor. Und nur das in reiner Tätigkeit sich selbst haltende und tragende geistige Ich kann die lebendige, selbsttragende Aktualität des reinen lebendigen Denkens hervorbringen.

Und zum Schluß Deines Artikels zitierst Du R. Steiner

Lediglich Rudolf Steiner [...] zeigte Wege, das reine lebendige Denken

in ein schauendes Bewusstsein hineinzuführen, das „in der Lage ist, die
geistige Welt erlebend zu erkennen.
Es würde mich freuen, geschätzter Falkenauge, wenn mir ein Anthroposophe
erklären könnte, wie das so ganz eigentlich funktioniert. Denn wenn ein
"reines lebendiges Denken in ein schauendes Bewusstsein hinein geführt
hat", dann müsste das Erlebte doch eigentlich erklärbar sein, da das
Denken immer nur vermittels Worten und Begrifflichkeiten vonstatten gehen
kann.

Und ein "reines lebendiges Denken" sollte doch dann reine und lebendige
Worte finden?

Mit dem Erleben des wesenhaften Selbst, im Gegensatz zum gewöhnlichen Ego, das nur ein schattenhafter Gedanke ist, wird der Weg beschritten, auch in Bezug auf andere Begriffe und Ideen in das Lebendig-Wesenhafte vorzudringen, von dem sie im gewöhnlichen Verstandesbewusstsein nur schattenhafte Spiegelungen sind. Das führt zu einem Erwachen aus dem gewöhnlichen Bewusstsein in ein höheres. Dazu ist eine Erkraftung des Willens im Denken notwendig.

„Man kann sich in innerer Erkraftung so aus dem Zustand des gewöhnlichen Bewußtseins herausheben, daß man dabei ein ähnliches Erlebnis hat wie beim Übergänge vom Träumen zum wachen Vorstellen. Wer vom Träumen zum Wachen übergeht, der erfährt, wie der Wille eindringt in den Ablauf seiner Vorstellungen, während er im Träumen willenlos dem Ablauf der Bilder hingegeben ist. Was da durch unbewußte Vorgänge geschieht, kann auf einer anderen Stufe durch die bewußte Seelenverrichtung bewirkt werden. Der Mensch kann in das gewöhnliche bewußte Denken eine stärkere Willensentfaltung einführen, als in diesem im gewöhnlichen Erleben der physischen Welt vorhanden ist. Er kann dadurch vom Denken zum Erleben des Denkens übergehen.

Im gewöhnlichen Bewußtsein wird nicht das Denken erlebt, sondern durch das Denken dasjenige, was gedacht wird. Es gibt nun eine innere Seelenarbeit, welche es allmählich dazu bringt, nicht in dem, was gedacht wird, sondern in der Tätigkeit des Denkens selbst zu leben. Ein Gedanke, der nicht einfach hingenommen wird aus dem gewöhnlichen Verlauf des Lebens, sondern der mit Willen in das Bewußtsein gerückt wird, um ihn in seiner Wesenheit als Gedanke zu erleben, löst in der Seele andere Kräfte los als ein solcher, der durch auftretende äußere Eindrücke oder durch den gewöhnlichen Verlauf des
Seelenlebens hervorgerufen wird.

Und wenn die Seele in sich die im gewöhnlichen Leben doch nur in geringem Maße geübte Hingabe an den Gedanken als solchen immer erneut bewirkt - sich auf den Gedanken als Gedanken konzentriert -: dann entdeckt sie in sich Kräfte, die im gewöhnlichen Leben nicht angewendet werden, sondern gleichsam schlummernd (latent) bleiben. Es sind Kräfte, die nur im bewußten Anwenden entdeckt werden. Sie stimmen aber die Seele zu einem ohne ihre Entdeckung nicht vorhandenen Erleben. Die Gedanken erfüllen sich mit einem ihnen eigentümlichen Leben, das der Denkende (der Meditierende) verbunden fühlt mit seinem eigenen Seelenwesen.“ (R. Steiner: Vom Menschenrätsel, S. 161 f.)

Grüße
Falkenauge


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