Lebenslanges Lernen wird durch den Zwang der staatlichen „Bildung“ abgetötet. Sich dem zu entziehen, ist anstrengend.

Avicenna, Dienstag, 25.02.2025, 18:00 (vor 305 Tagen) @ Brutus1568 Views

Hi @Brutus,

Deine Betrachtung erfasst wichtige Determinanten der modernen Problematik des Denkens. Danke für Deine Beobachtungen, die mit denen des Psychologie-Professors Ernst Pöppel übereinstimmen, auf die ich immer mal wieder hinweise (https://angstambulanz.info/#denken), dass nämlich

nur rund zehn Prozent der Menschen selber denken und ihr Leben in die eigene Hand nehmen. ... Neu ist jedoch der Einfluss der digitalen Medien. Diese übernehmen zunehmend eine Vordenkerfunktion - gerade auch bei Akademikern, von denen man eigentlich noch am ehesten annehmen sollte, dass sie selber denken wollen.

Warum das gerade bei Akademikern so ist, hast Du offenbar besser erkannt als Pöppel, der sich darüber noch wunderte. Aber auch Pöppel ist Akademiker.

Freilich erklärt die Zweiteilung der Hirnbeanspruchung zwischen Arbeitern und Akademikern nicht alle Determinanten. Ich persönlich habe den Eindruck, dass echtes Selberdenken auch eine Art von natürlicher Begabung ist, die sich – wie musikalische oder mathematische Begabungen – nur bei wenigen Prozenten unserer Spezies findet. Arbeiter profitieren möglicherweise davon, dass ihnen die kognitive Vergewaltigung (umgangssprachlich: Verblödung) des modernen akademischen Verbildungssystems erspart und die natürlichen Instinkte des gesunden Menschenverstandes erhalten geblieben sind.

Auch Daniel Kahneman, Psychologe und Nobelpreisträger, der an der Hebräischen Universität Jerusalem, University of British Columbia, University of California, Berkeley, und Princeton University über 40 Jahre Psychologie lehrte, stellte fest, dass er das Denken seiner Studenten nicht wirklich ändern konnte (https://angstambulanz.info/#lernen).

Haben die Studenten aus den Ergebnissen ... etwas gelernt, das ihre Denkweise wesentlich verändert hat? Die Antwort ist einfach: Sie haben überhaupt nichts gelernt.

In allen Fällen ist es für den einen wie für den anderen mit einer gewissen Anstrengung verbunden, das eigene Weltbild immerfort zu hinterfragen und selber zu denken, weshalb es zu allen Zeiten, denken wir nur an Platons Höhlengleichnis, schon immer so war, wie Bertrand Russell, Mathematiker, Philosoph und Nobelpreisträger, beschrieb:

„Wir alle haben eine Tendenz zu denken, dass die Welt unseren Vorurteilen entsprechen muss. Die gegenteilige Herangehensweise beinhaltet eine gewisse Anstrengung des Denkens, und die meisten Menschen würden eher sterben als denken. Und in der Tat: Sie tun es.“

Dein geschilderter Gabelstaplerfahrer wird wohl auch in der Gruppe der Gabelstaplerfahrer eher zur Minderheit gehören, die die Dinge hinterfragen. Es gibt ein breites Kontinuum zwischen denen, die wirklich selber denken können, und denen, die nicht denken können und ihr Daherplappern mit Denken verwechseln. Den Plappermäulern verständlich zu machen, wie genussvoll Denken stattfindet, ist ähnlich schwierig, wie einem Tauben zu erklären, wie wundervoll Beethovens Achte Sinfonie klingt.

Die wenigen Selberdenker erkennen sich ja auch hier im Forum untereinander und wissen, wie wenige sie sind.

Heitere Grüsse aus dem Gedankenuniversum
Avicenna

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"Niemand ist mehr Sklave als der, der sich für frei hält, ohne es zu sein" (Johann Wolfgang von Goethe, 1809)


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