Mal wieder etwas Bildung- Tödlicher Alltag - Strafverteidigung im 3. Reich

Kurz_vor_Schluss, Donnerstag, 11.05.2023, 20:33 (vor 322 Tagen)4618 Views

Guten Abend,
da ich letztens hier vom (vermeintlich bevorstehenden) Ende dieses Forums las und überdies in diesem Zusammenhang Karl Valentin zitiert fand, wollte ich auch noch etwas zum Besten geben - nämlich eine Buchempfehlung zu einem kleinen Buch mit dem schönen Titel "Tödlicher Alltag". Warum diese Empfehlung....? Nun, wir leben in seltsamen Zeiten und der Blick in die Vergangenheit mag uns manches Verständnis für künftige Ereignisse oder das Verhalten vieler Mitbürger grade in jüngster Vergangenheit lehren - ergo denn besagte Empfehlung, aus der sich manches Interessante ziehen lässt. Ad rem:
Das kleine Büchlein von grade mal 217 Seiten, geschrieben von Dietrich Wilde (unter dem Pseudonym Dietrich Güstrow) und erstmals erschienen 1981 im dtv Verlag, lohnt die Lektüre.
Keine umfassende Analyse, keine Gesamtdarstellung einer Justiz im 3. Reiche wird hier geboten, sondern kleine Geschichten aus dem Alltag eines Strafverteidigers. Grade diese sind es, die den Reiz des Buches ausmachen (und Apologeten einer „die anderen sind schuld“-Haltung ins Stammbuch geschrieben werden sollten).
Denn aus den selten mehr als 15 Seiten umfassenden Erzählungen verschiedener Fälle wird schnell klar, dass hier eines der kältesten Ungeheuer (frei nach Nietzsche) sein Unwesen trieb und grade wie sein roter Bruder im Geiste (etwas weiter östlich) entschlossen war, seine Feinde zu vernichten – ob echt oder vermeintlich, spielte keine große Rolle.
Ein paar der Fälle machen dies deutlich:
- Der Schneider, der 1939 Hühner eines Bekannten zu verkaufen beginnt, nicht wissend, dass die Hühner gestohlen waren = als „Volksschädling“ zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt, 1944 ins Strafbataillon versetzt, dort umgekommen.
- Drei pensionierte, dann reaktivierte Feuerwehrmänner aus Berlin, die beim Einsatz im brennenden Rostock 1942 in dem Haus, in dem sie einquartiert worden waren, sich an den Vorräten bedienen (da ihnen im Chaos kein Essen zugeteilt wird) – einer nimmt überdies etwas davon mit, ein anderer stiehlt ein Kleid für seine Frau = vom Pfarrer (jawohl), dem Hauseigentümer, angezeigt und als Plünderer zum Tode verurteilt.
- Der 26jährige Sohn aus gutem Hause (ein verwöhnter Bengel), der Hehlerei betreibt und sich versucht, dem Kriegsdienst zu entziehen = als gemeiner Verräter und Volksschädling 1942 zum Tode verurteilt (wie viele andere dieses nicht verstehend, schreit der junge Mann vor Gericht: Nein, nein! Ich bin doch kein Mörder, ich habe doch niemanden getötet!). Zwecklos auch hier, das Schreien…..
- Der Hauptmann der Luftwaffe, der seinen Vorgesetzten 1944 beim Umtrunk seine Zweifel am Endsieg spüren lässt (worauf sich folgender Dialog entspannt: Herr Hauptmann, zweifeln Sie am Endsieg? Ich verlange sofortige Antwort! – Herr Major, fahren Sie mal durch (das zerbombte) Hamburg und dann reden Sie vom Endsieg!) = ins Strafbataillon versetzt und dort in den Abwehrkämpfen im Winter 44/45 irgendwo im Osten verreckt.
- Und schließlich der Österreicher, der mit Hitler als Junge aufgewachsen war und vor Kameraden äußerte: Der Adi ist ja deppert, seit ihm ein Ziegenbock den halben Zippedäus abgebissen hat – und auf Nachfrage erzählt, wie Hitler als Kind dem Ziegenbock ins Maul gepisst habe und der ihm in den …… gebissen habe = wegen defätistischer Äußerungen, die die Wehrkraft des deutschen Volkes zersetzen, zum Tode verurteilt.
Man gebe sich keinen falschen Vorstellungen hin: Dieses Regime, was da 1945 sein krachendes Ende fand, war, wie aus diesem kleinen, unscheinbaren Büchlein deutlich wird, ein brutales Mörder- und Unrechtsregime – und je näher es seinem Ende rückte, desto wilder schlug es um sich.
Was nachdenklich stimmt, sind all die Szenen der Duckmäuserei, der Karrieresucht, des Kadavergehorsams, der Feigheit und der offensichtlichen Lüge.
Was hoffnungsvoll stimmt, sind im Gegensatz dazu die Schilderungen der Menschen, die sich bewusst dafür entscheiden, Sand im Getriebe des Molochs zu sein: Der Staatsanwalt, der die Akte eines Angeklagten verschwinden lässt. Der Richter, der bewusst heikle Beweisanträge zulässt. Und eben auch der Strafverteidiger, der, angewidert von der Lüge und der Brutalität, sein Möglichstes versucht, um manche zu retten (was auch gelingt).
Als kleine Inspiration für Mut in schweren Zeiten kann dieses Buch somit manchen ans Herz gelegt werden. https://de.wikipedia.org/wiki/Dietrich_Wilde
P.S.: Es soll nicht verschwiegen werden, dass der selbsternannte Kämpfer für Gerechtigkeit vielleicht auch nur ein reumütiger Mitläufer gewesen war – denn wenn dieses www-Fundstück die Wahrheit sagt, so hängte auch der Autor dieser wirklich guten Geschichten sein Fähnchen nach dem Wind und heulte mit den Wölfen…. Wie es damals fast alle taten und wie es auch heute fast alle tun…. https://www.kj.nomos.de/fileadmin/kj/doc/1991/19911Rottleuthner_Tuchel_S_76.pdf
Aber dennoch: Es ist ein schönes, ein gutes und ein mutmachendes Buch. Wer also noch Muße zum Lesen nutzt – hier lohnt sich die investierte Zeit.

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Es ist schon alles gesagt, nur noch nicht von allen.
Karl Valentin


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