Gründe zum Weitermachen
Lieber Elli,
ich kann solche depressiven Stimmungen gut verstehen, in denen man vor den Fragen steht: Darf ich einen solchen nicht wieder umkehrbaren Schritt tun? Ist mein innerstes Wesen mit all seinem Denken, Fühlen und Wollen, Lieben und Hoffen, seinem ganzen seelischen Reichtum mit dem materiellen Leib identisch und löst sich mit diesem in Nichts auf? Kann ich einen solchen Schritt vor mir selbst verantworten? Schon der Skrupel und diese letzte Frage zeigen, dass Ich mit der Materie des Leibes nicht identisch bin, sonst könnten solche Bedenken gar nicht auftreten.
Solche Gedanken führen zur Frage nach dem Sinn des Lebens und dazu, auch die Möglichkeit der Wiederverkörperung einzubeziehen. Überzeugung und Glaube daran durchziehen die ganze Menschheitsgeschichte in allen Hochkulturen. Haben sich die Menschen das alles nur eingebildet, weil sie damals halt so primitiv waren?
Es liegt der Gedanke nahe, den Tod mit dem abendlichen Einschlafen zu vergleichen. Der Schlaf ist auch oft der kleine Tod genannt worden. Wenn wir am Morgen erwachen, knüpfen wir vernünftigerweise an das an, was wir am Tage zuvor getan, begonnen haben, und setzen nach den Erfahrungen, die wir gemacht, mit den Fähigkeiten, die wir erworben haben, unser Werk fort, korrigieren, verändern oder müssen auch wieder gutmachen, was wir verschuldet haben.
Kann es nicht mit dem ganzen Leben so sein? Sowenig wir an einem Tag alles erfüllen können, was unser Anliegen ist, sowenig reicht ein einziges Leben aus, um das zu erreichen, was uns vorschwebt. So gehört alles, was wir an Schicksal zu tragen haben, zu uns. Das Schicksal scheint unergründlich, aber je schwerer es ist, umso bedeutender die Leistung, es zu bestehen und die Fähigkeiten, die daraus für die Zukunft erwachsen. „Gewiss ist es fast noch wichtiger, wie der Mensch das Schicksal nimmt, als wie es ist“, sagte Wilhelm von Humboldt.
Ich bin überzeugt, dass sich alles ausgleicht, wenn wir das Schicksal bestehen und das Beste daraus machen.
Der tiefsinnige Humorist Wilhelm Busch dichtete ernsthaft:
Wiedergeburt
"Wer nicht will, wird nicht zunichte,
Kehrt beständig wieder heim.
Frisch herauf zum alten Lichte
Dringt der neue Lebenskeim.
Keiner fürchte, zu versinken,
Der ins tiefe Dunkel fährt;
Tausend Möglichkeiten Winken
Dem, der gerne wiederkehrt.
Dennoch seh` ich dich erbeben,
Eh du in die Urne langst.
Weil dir bange vor dem Leben,
Hast du vor dem Tode Angst."
Und der amerikanische Drucker, Erfinder und Staatsmann Benjamin Franklin war bereits in jungen Jahren überzeugt, dass ein Leben nicht ausreiche, um sich in der gewünschten Weise zu entwickeln, dass man weitere Leben benötige, um die Lehren aus dem vergangenen zu ziehen und sich immer weiter zu verbessern. Mit 23 Jahren entwarf er für sich den folgenden Grabspruch:
„Hier ruht der Leib des Buchdruckers
Benjamin Franklin
als Speise für die Würmer,
gleich dem Einband eines alten Buches,
aus dem der Inhalt herausgenommen
und seiner Aufschrift und Vergoldung beraubt ist. –
Aber das Werk selbst wird nicht verloren sein,
sondern es wird dermaleinst wieder erscheinen
in einer neueren, schöneren Ausgabe,
durchgesehen und verbessert von dem Verfasser.“
Liebe Grüße
Falkenauge