Sammelantwort

Weiner, Freitag, 04.10.2024, 22:15 (vor 448 Tagen) @ paranoia2109 Views

Hallo miteinand!

Der Einwand von @Paranoia ist mir am wichtigsten. Immer wieder sage ich, dass Russland zum "Westen" gehört. Abendland ("Westen") = Europa plus Russland plus Nordamerika (in historischer Reihenfolge). Aber offenbar wird das nicht verstanden.

Die jetzige Situation ist für mich und in dieser Sichtweise ein Bürgerkrieg innerhalb des Westens (USA + EU <=> RU). Die beiden letzten großen Bürgerkriege im Westen waren USA + 1/2 EU + RU gegen D + 1/2 EU (Erster und Zweiter Weltkrieg). In dem Augenblick, wo diese Bürgerkriege, die seit 1500 Jahren ablaufen, zu Ende sein werden (siehe unten), kann ein genuin abendländischer Block entstehen aus ebenfalls einer Milliarde Menschen (wie China oder Indien). Und dieser geopolitische Block würde (aus heutiger Sicht) den Mittelmeerraum, Afrika und Lateinamerika als "sein Revier" betrachten wollen. Das heißt Afrika und Lateinamerika würden zusammen mit Nordamerika-Europa und Russland einen relativ geschlossenen Wirtschaftsraum bilden können, in dem eine gewisse kulturelle Homogenität herrschen würde (siehe zB. Verbreitung des Christentums in Afrika und Lateinamerika). Auch wenn etwa gegenwärtig Frankreich machtpolitische Positionen in Afrika verliert, ist Afrika doch kulturell eher auf Europa orientiert als auf Südostasien.

Wenn also jetzt gerade Russland oder China in Afrika aktiv werden, so sind das belanglose Mückenstiche, die vor der Weltgeschichte keinen dauerhaften Bestand haben werden. Sie sind veranlasst (von Russland aus gesehen) durch den aktuellen Bürgerkrieg innerhalb des Westens (US + EU <-> RU / Flankensicherung durch Russland) sowie durch die chinesische globale Machtpolitik (die von Chinesen selbst natürlich abgestritten wird: wir wollen doch nur Ess-Stäbchen verkaufen ...).

Vielleicht ist mein Terminus "Bürgerkrieg innerhalb des Westens" nicht passend? Ich sehe jedenfalls Nordamerika, Europa und Russland als eine Einheit an. Und von Putin kann man ganz klar sagen (auch heute noch), dass er mit dem Westen (USA-EU) eigentlich kooperieren will; er möchte vom Westen respektiert werden und "dazugehören". Das ist so was von klar, wenn man sich die russische Literatur, Musik, Kunst und die orthodoxe Kirche ansieht. Sie sind eigene Ausprägungen einer gemeinsamen abendländischen Identität. Nur politisch gesehen stand diese abendländische Gesamtstruktur intern immer in einem Wettbewerbssystem, mit Kriegen jeder gegen jeden - zuletzt der territorialen Fürsten und schließlich der Nationalstaaten gegeneinander. Ich sehe hier aber das Trennende (Machtpolitik und Krieg) als klein und gering gegenüber dem Vereinigenden (Kultur, Religion, Weltanschauungen, Wissenschaft, seelische Grundhaltungen etc.).

Das 1500 Jahre alte Wettbewerbssystem innerhalb des Westens stößt jetzt an seine Grenzen. Es war bereits in einer kritischen, selbstzerstörerischen Phase während den beiden ersten Weltkriegen. Das hat u.a. dazu geführt, dass Frankreich und England ihre Kolonien verloren haben. Die aktuelle Situation ist eine weitere Zuspitzung, die an Selbsttötung in einem Anfall von Wahnsinn grenzt. Im Rahmen zyklischer Gesetzmäßigkeiten ist aber auch dies nur ein Durchgangsstadium (zugegeben eine durchaus riskante Phase wie die Häutung bei Schlangen oder das Schlüpfen bei Insekten). Es steht dann im Abendland der Aufbau einer Gesamtstruktur an, die die Divergenzen bündelt und das System erneut stabilisiert. Im morphologischen Kulturvergleich (zB. nach Spengler) befinden wir uns in ein einem Abschnitt, der den Jahrzehnten von Cäsar bis Augustus entspricht (eben der Bürgerkrieg!). Mit Augustus war eine stabile Gesamtstruktur für den Mittelmeerraum und angrenzede Regionen erreicht. Genauso wird es eine Gesamtstruktur für das Abendland geben, die im Kern Nordamerika, Europa und Russland umfassen und angrenzende Regionen (Afrika, Lateinamerika und Nahost) einbeziehen wird.

Für das, was am Ende dabei herauskommt, gibt es aber verschiedene Modelle und Vorschläge, die wiederum erstritten und umgesetzt werden müssen. Eines dieser Modelle ist das beschriebene "Gefängnissystem des Westens": der bereits erwähnte digital-finanzielle-militärische-mediale-(pseudo)wissenschaftliche Komplex. Er ist genauso platt und inhaltsleer wie der ganz ähnlich aufgebaute chinesische Gefängniskomplex (die großartigen kulturellen Leistungen der Chinesen in der Vergangenheit lassen wir mal beiseite, weil sie überschrieben wurden durch eine weitgehende Verwestlichung der chinesischen Zivilisation: die Chinesen haben das Smartphone nicht erfunden, aber jeder Chinese hat heute eins). Beide Gefängnissysteme, wenn sie verwirklicht würden, werden also einander ähnlich sein und in Wettbewerb miteinander treten.

Das ist aber nur eine von mehreren geschichtlichen Optionen. Es gibt weitere Möglichkeiten, die ich aber hier nicht beschreiben muss bzw. in meinen vorherigen Beiträgen angedeutet habe. Ich erwarte einen integrierender Impuls aus genuin abendländischer Tradition heraus, der allerdings eine starke russische Komponente haben wird.

Auf den Einwurf von @stokk würde ich antworten (wie oben angedeutet), dass die russische Diplomatie und Militärhilfe in Afrika sehr kurzfristige Manöver sein werden. Das hält nur ein paar Jahre und verpufft dann wieder. Und bei Martyanov habe ich drei Male reingeschaut, bei Escobar vielleicht fünf Male. Sie mögen von aktueller Waffentechnologie oder BRICS-Verhandlungen eine gewisse Ahnung haben, aber nicht von Weltgeschichte.

Ich sage es nocheinmal ganz deutlich: Russland gehört zum Westen und nicht zu China. Die gegenwärtige Kooperation beider Staaten ist kurzfristig und von aktuellen gemeinsamen Interessen bedingt, aber wird nicht von langer Dauer sein.

Ich streite nicht ab, dass Russland gerade auf einem Wachstumspfad ist. Russland war auch auf einem Wachstumspfad während der Herrschaft von Stalin, d.h. in 1930er bis 1950er Jahren. Doch ungeachtet dessen gab es mitten in diesem Wachstumspfad sehr dunkle Stunden (etwa den Angriff von Deutschland 1941-1943). Genauso wird es Russland auch in den nächsten 20 Jahren gehen. Da wird es ebenfalls sehr dunkle Stunden geben. Am Ende wird die Erneuerung in Russland aber ähnlich ablaufen wie in Europa (durch eine Neuschöpfung aus einer Rückbesinnung heraus). Beide Regionen werden dann miteinander kooperieren und den Nahen Osten gemeinsam neu ordnen (2040-2050).

Der Prozess der von mir eben so bezeichneten 'Rückbesinnung' hat in Russland vielleicht ein bißchen bälder begonnen als in Europa und in den USA. Aber das täuscht wahrscheinlich. Es gibt auch in Europa und Amerika jenseits der oberflächlichen, von der Politik gesteuerten Polarisierungen genuine Geistesströmungen einer Renovatio. Es wird sie im Übrigen auch in China schließlich noch geben - auch dort wird man die eigene Geschichte neu entdecken, reflektieren und als Leitfaden in die Zukunft nutzen.

Es wird somit ein GO geben, but the game is not over. Nach dem RESET kommt ein RESTART.

Ist halt so.

Sagt Weiner.


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