Nippen am Glas Wasser
vielen Dank, dass Sie mir das Sie angeboten haben. Man vergisst allzuschnell nach einer Weile im Gelben das Pathos der Distanz*.
So wichtig nehme ich mich nicht. Zwar kann man Höflichkeit auch zum Pathos der Distanz im Sinne Nietzsches erklären, gar zur inneren Vornehmheit; dann aber ist sie nur Arroganz in meinen Augen. Ich dagegen bin ein praktisch denkender Befürworter gegenseitigen Respekts, den persönlich sich Fremde unabhängig von ihrem gesellschaftlichen Stand erweisen, indem sie im Diskurs diese persönliche Fremdheit nicht mit diesem Du übertünchen wollen. Ein Vorteil der deutschen Sprache, den die englische Sprache im Umgang miteinander bekanntlich nicht bietet. Nur in dieser Beziehung fühle ich mich als Deutscher priviligiert, wenn ich sprachlich zwischen Sie und Du die Wahl habe.
Erst das ermöglicht wenigstens mir die objektive Wahrnehmung des Gegenüber, weitgehend ungetrübt von meinem persönlichen Interesse (auch keinem geheuchelten), und somit Basis für wirkliches gegenseitiges Einschätzen, Zuhören, Verstehen und nicht zuletzt Vertrauen. Wenn das zur Sympathie hinzu tritt, ist schließlich der Wunsch, sich gegenseitig zu duzen, dann nur natürlich und somit der zweite Schritt. Dann weiß ich erst, wie wertvoll das Duzen als Wertschätzung im gegenseitigen Umgang ist. Ihr DU hat für mich dagegen momentan keinen Wert. Es ist mit Verlaub hohl für mich. Deshalb will ich es auch hier im Forum für mich nicht inflationieren, indem ich es Ihnen oder anderen Forumteilnehmern gleich tue. Das soll keine Kritik sein, nur eine Erklärung.
Das Verwenden des persönlichen Du, das einem nicht angeboten wurde, ist diesbezüglich nach meinem Empfinden immer der Versuch einer Abkürzung - die meines Gegenüber - die es über das eigene Subjektive nimmt, das schneller zum anderen Subjektiven vordringen will, ohne dafür etwas vom eigenen Persönlichen investieren zu müssen. Im Roman ein erlaubtes Stilmittel, im wahren Leben eine Art Hausfriedensbruch oder die Vorspiegelung eines sehr persönlichen Verhältnisses und somit das Einfallstor für Heuchelei und gegenseitige Manipulationen. Mit anderen Worten: Wie die bloße Phrase ein untaugliches Mittel, wirkliche, d.h. aufrichtige Nähe herzustellen bzw. zu demonstrieren.
Jeder soll es halten wie er will, aber für mich ist das Duzen - wenn es nicht Familie oder Verwandtschaft betrifft, wo es keiner Voraussetzung bedarf - Ausdruck meiner hohen persönlichen Wertschätzung, die nur ein persönlicher Umgang mit sich bringen kann. Kein virtueller. Das will ich mir bewahren. Wenn Sie mich Duzen wollen, habe ich damit kein Problem, fühle mich da aber nicht von Ihnen persönlich angesprochen (dazu müssten Sie mich persönlich kennen), geschweige ausgezeichnet und duze deswegen noch nicht zurück, sondern bewahre mir die persönliche Unterscheidung, die Sie von meinen Verwandten und Freunden trennt. Ich hoffe, sie werden mir dies nicht verübeln.
In Ihrer Argumentation steckt wohl ein wenig Safranskis Nietzsches Buch drinnen - Denken und Leben in eins zu setzen. Die Turiner Droschengaulgeschichte kann man sicher als pars pro toto lesen. An dieser Stelle bitte ich um Pardon für die Unterstellung der Unkenntnis.
Safranskis Buch kenne ich nicht. Aber gerade bei Nietzsche, der wohl selbst nicht wirklich wußte, wo bei ihm der Philosoph aufhört und der Poet anfängt, der Poet aufhört und der Philologe sein Recht fordert, ist der Konflikt zwischen Denken und Leben geradezu Voraussetzung für sein gesamtes Werk gewesen. Es stellt den Versuch dar, das eigene Subjektive unter dem Einfluß des Laudanum - einem Opiat, das er regelmäßig gegen seine Migräne einnahm - zum Objektiven aufzuwerten und nicht selten auch aufzublasen. Das war seine „Umwertung aller Werte“, seine „Götzendämmerung, seine „Morgenröte“. Das Opiat wurde zum Quell seiner Selbsttäuschung.
Die „fiole de laudanum“ war bei vielen Poeten der damaligen Zeit - vor allem in den französischen Kreisen um Baudelaire, den Nietzsche eifrig studiert hat - eine Abwehrmaßnahme gegen die Gegenwart der rasanten Industrialisierung, also gegen die Herrschaft der mechanischen Zeit, die den Körper zur eigenen Hölle macht. Es hieß: Kopf oder Zahl! Also Unendlichkeit des Geistes gegen Sterblichkeit des Körpers. Baudelaire spricht hier von „künstliche Mitteln, durch welche der Mensch, indem er seine Persönlichkeit aufs Äußerste steigert, in sich gleichsam eine Gottheit erschafft.“ Das ist die wahre Geburt des Zarathustra.
Im Gegensatz zu Schopenhauer versuchte Nietzsche nicht, dem Leid durch Verstehen und echtem Mitgefühl zu entkommen sondern sich ihm mit seinem gesamten Denkarsenal entgegenzuwerfen, koste es, was es wolle. Allerdings nur gedanklich. Sein Geist war zweifellos ein sehr wirkungsmächtiger, denn die körperlich Gebrechlichen, die sich wie er verdammt Fühlenden, sind immer zahlreich. Doch seine Seele war alles andere als stark und das Zusammenspiel zwischen ihr und seinem Körper war über lange Strecken bekanntlich sehr stark vom Opium beeinflußt.
Ich verstehe Juvenals Bonmot, dass nur ein gesunder Körper einen gesunden Geist beherbergen kann, tatsächlich satirisch im Gegensatz etwa zu General Gneisenau. Denn nähme man in diesem Fall die körperertüchtigende militärische Gneisenaufassung des Juvenalspruchs, hätte wohl auch seiner Meinung nach ein kranker Geist Nietzsche beherrscht, denn bekanntlich war der Zarathustra von Röcken körperlich schon früh ein Wrack.
Wenn man seine große Not nicht erkennt, seinen ungeheueren Rechtfertigungsdruck gegenüber dem Pfarrhaus, dem er entstammte, erkennt man nicht den heroischen Kampf, den er mittels Drogen mit sich selbst auskämpfte und den er in seinen Texten lediglich camouflierte.
Ist das Gefährlich an Nietzsche das Mitleid oder was ist das Gefährliche?
Dem gesunden Menschenverstand ist Nietzsche nicht gefährlich. Nur dem an sich selbst kränkelnden. Für ihn selbst war das Mitleid allerdings ein sehr gefährliches Gefühl, da er Mitleid und Selbstmitleid nicht auseinanderhalten konnte (siehe Menschlich Allzumenschliches) und sein eigenes Selbstmitleid im Selbstmitleid der anderen spiegelte und sich so im Gegenüber hasste. Für den Sohn eines sehr strengen Pfaffen sicher verständlich.
Was macht ihn so attraktiv, um ihn mit Darwin und Marx in einem Atemzug zu nennen - was einigt die drei Denker? Mitleid oder Atheismus kann es doch irgendwie nicht sein, denn das tattwamasi und den Atheismus liefert auch Schopi, der ja nicht auf der ominösen Liste steht.
Schopenhauer steht schon deshalb nicht auf der Liste, weil sich seine Philosophie politisch weder vereinnahmen noch verwerten läßt. Sowenig wie das tattwamasi der Hindus, wie das Suchen nach der Wahrheit, das immer nur über die eigene Wahrheit funktioniert, individuell, nie kollektivistisch.
Es ist die Idee von der Züchtung des Übermenschen durch einen heroischen Kollektivismus, der alle drei Ideengeber in den „Protokollen“ vereint. Nietzsche war für die faschistische Idee der rassischen Überlegenheit verwertbar; Marx für die kommunistische Idee der „Historischen Mission der Arbeiterklasse“, wobei es eben der Hegelsche Weltgeist ist, der sie auf Mission schickt. Darwin lieferte die biologistische - d.h. pseudonatürliche Begründung mit seinem satanistischen Konzept der Auswahl und Zuchtwahl. Alle drei waren also Anhänger eines göttlichen Absolutismus. Alle drei Elemente finden sich bereits im Jesuitenstaat Paraguay vorgebildet.
In den Protokollen heißt es deshalb auch folgerichtig unter dem Punkt: „Erfolge der zersetzenden Lehren“:
„Glauben sie nicht, dass unsere Behauptungen nur leere Worte seien. Blicken Sie auf die von uns erweiterten Erfolge der Lehren von Darwin, Marx und Nietzsche. Ihre zersetzende Wirkung auf nichtjüdische Köpfe sollte uns wenigstens klar sein.“
Uns könnte dagegen klar sein, dass sie natürlich auch massenhaft auf jüdische Köpfe wirkten und diese zersetzten - allen voran Achad Haam, den Gründer der faschistischen Variante des Zionismus, der ein großer Darwin -und Nietzschefan war. Theodor Herzl, der Begründer der sozialistischen Variante dagegen orientierte sich an Marx, woraus man schon schließen kann, dass die Verfasser der Protokolle wohl kaum „die Juden“ gewesen sein können, die sich anschickten, die Welt beherrschen zu wollen. Es sei denn, man nimmt an, sie wollten sich dabei selbst austricksen.
Herzlich zurück
DL