Hallo Olivia,
ich mißbrauche jetzt Deinen Thread zu China/Taiwan/Australien, um etwas zu Putin zu schreiben, mache aber ein paar Bemerkungen natürlich auch zu Deiner Ausgangsfrage:
Die ganzen Geschichten mit Hongkong, Taiwan, Spratly etc. gehören für mich zum Thema 'Muskelspiele' und 'Reviermarkierung'. Unter der aktuell gegebenen Lage (d.h. für die nächsten 3-5 Jahre) wird sich überhaupt nichts am Status von Taiwan oder gar Australien ändern. Allerdings wird der Stress in und zwischen den Systemen zunehmen, an- und ab- und anschwellend, bis wir an der nächsten Sollbruchstelle angelangt sind.
Wir schlittern gegenwärtig in eine Chaos-Zone (Kammerflimmern), wo jeder, der Macht ausüben kann, alle seine Möglichkeiten (die durch den vorübergehenden bzw. scheinbaren Zerfall der USA entstanden sind) für sich selbst austestet und, sofern kein Widerstand kommt, natürlich auch auschöpft.
Taiwan ist mit China wirtschaftlich recht gut verflochten. Vor 10 Jahren haben sie ein entsprechendes Abkommen geschlossen. Ich vermute, dass es aktuell verlängert wurde, aber habe es nicht nachgeprüft. Es gibt daher eine Oligarchen-Fraktion in Taiwan, die auf einen Anschluss ans Festland hinarbeitet, d.h. Taiwan wird unterwandert. Festland-China wird sich eines Tages Taiwan holen ohne irgendeinen Schuss, und umgekehrt werden sich 'Kapitalisten' (von überall her ...) bemühen, die Volksrepublik zu erobern, wobei sie Taiwan als einen (von mehreren) Brückenkopf nutzen werden.
Am Wochenende hat @stokk nach einer Kommentierung der Rede von Putin für das Davos-Forum gefragt. Da gibt es aber nichts zu kommentieren, denn das war diplomatisches BlaBla. Ich habe die anderen Reden (Merkel, Xi etc.) nicht angehört (interessiert mich einfach nicht ...), und deswegen kann ich auch nicht vergleichen oder bewerten. Putin hat sich ziemlich lange mit den sozialen Ungleichgewichten der Gegenwart aufgehalten (hat er in seinem eigenen Land ja genug Anschauung und Resonanz, wenn er sowas aufgreift). Umweltthemen erwähnt er nur in wenigen Sätzen. Vorschläge macht er keine, von allgemein üblichen Appellen abgesehen (wir sollten mehr miteinander kooperieren etc.). Nach seinem Vortrag bekommt er von Schwab in Form einer Frage noch eine Vorlage direkt auf den Fuß und kann daher sein Tor in der letzten Minute schießen: er wünscht sich eine Kooperation, ja Vereinigung Russlands mit Europa, denn er liebt Europa. Aber diese Liebe ist, so sagt er, leider einseitig ...
Putins Palast am Schwarzen Meer wurde hier auf dem Forum offenbar nicht thematisiert, wiewohl das ein neues und aufschlußreiches Beispiel für Manipulation mit Fake-News ist. Bei 'moonofalabama' gibt es eine erste Analyse, die aufzeigt, dass die Auftraggeber für die Doku in den USA sitzen, direkt nachweisbar über die Firmierung (Drehort war im Schwarzwald), indirekt vor allem aber in der Sprache und Diktion: offensichtlich wurde das Skript in amerikanischem Englisch geschrieben und dann ins Russische übersetzt - und das eben nicht sehr gut. Die Führung in der Doku durchs Innere des 'Palastes' ist virtuell, denn der Palast ist offenbar noch weitgehend Baustelle.
Die Hintergründe sind sehr komplex. Nawalny ist natürlich ein Instrument des 'Westens', aber das 'Palast-Projekt' selbst ist ein vergleichbarer Versuch, umgekehrt Putin zu manipulieren. Die Palast-Story ist in Russland schon seit 10 Jahren bekannt. Der Bau wurde von einigen Oligarchen in Putins Umfeld initiiert (zeigt auch den Größenwahn dieser Kreise!) und dann Putin angeboten, doch von ihm abgelehnt. Vermutlich auch deswegen (von Finanzierungsfragen ganz abgesehen) kam das Projekt immer wieder ins Stocken. Denn Putin ist in ständigem Kampf gegen die Ambitionen dieser Oligarchen, muss aber selbst zu ihnen gerechnet werden. Er ist ihr Kopf und will bzw. muss sie kontrollieren, aber das gelingt nicht immer und nicht überall. In den letzten Jahren hat sich als weitere Kraft mehr und mehr das Militär (inkl. Sicherheitsdienste, d.h. Silowiki, gewissermaßen die alte STAVKA) nach vorne geschoben, in Konkurrenz zum Einfluss der Oligarchen. Zugute kam dem Militär dabei der Druck, den die USA und der Westen auf Russland ausüben (indirekt auch der wachsende Riese CHINA), denn derartiger außenpolitischer Stress stärkt natürlich die Rolle des Militärs. Im vorletzten Jahr (wenn ich mich richtig erinnere) hat sich hierbei Wladislaw Surkow mit einer (eher peinlichen) Lobhuldelei auf Putin hervorgetan *), was aber von Putin genauso abgelehnt wurde wie die Palast-Offerte (Surkow wurde ein Jahr später, nach 20 Jahren Dienst, aus dem Kreml 'verabschiedet'). Eine dritte Macht, mit der Putin sich ständig arrangieren muss, ist die Orthodoxe Kirche, und ganz zuletzt kommen dann seine Wähler, die so genannte 'Popularität' - wo er von so miesen Typen wie Nawalny herausgefordert wird. Abgesehen von ausländischer Unterstützung und von Arbeit mit Fake-Propaganda hat Nawalny keine echte Machtbasis und wird deswegen nichts erreichen (so wenig wie Guaido in Venezuela).
Man verstehe bitte Putin als das im Grunde schwache und leichtgewichtige Zünglein an der Waage. Er muss die internen russischen Machtcliquen und Kräfteverhältnisse ständig ausbalancieren, gleichzeitig muss er extern die geopolitischen (militärischen und wirtschaftlichen) Systemzwänge und Herausforderungen fortlaufend erwidern, abwehren und die Position Russlands dabei möglichst stärken. Er hat diesbezüglich seinen Job bislang hervorragend gemacht, und er ist daher ein Glücksfall für Russland. Es gibt im Augenblick keine Gestalt in der Weltpolitik, die vergleichbare Größe hätte. Am meisten muss man ihm anrechnen, dass er seinen Geschäften und Pflichten (als Anführer) sehr ruhig und diskret, in gewisser Weise auch ehrlich (in der Substanz, nicht in der Ausführung!!) sowie berechenbar nachgeht - und dass er seine Leute nicht mit Baseballschläger, Kettensäge und Glüheisen loschickt (wie so manche seiner Vorgänger das getan haben ...). Mir tut er leid, denn es ist überaus wahrscheinlich, dass nach ihm niemand da ist, der sein Werk angemessen fortführen kann.
In seiner Rede für Davos hat Putin (auf 'Experten' verweisend ...) einen Vergleich der Gegenwart mit den 1930er Jahren angesprochen. Ich habe in meinen Beiträgen hier auf dem Forum immer wieder auf diese interessante Thematik hingewiesen (aus zyklischer Sicht). Ich hoffe sehr, dass Putin diesen Aspekt in voller Tragweite erkennen kann. Denn in den 1930er Jahren hat ein Anderer 'sein' (?) Land (das nach dem Ersten Weltkrieg genauso zerlegt werden sollte wie Russland nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion) ebenfalls wieder stark machen können (dürfen?) - weniger mit Rohstoffen als vielmehr mit Wissenschaft und Technik, mit Massensuggestion sowie mit brutaler Überwachung und Unterdrückung. Diese Geschichte, wie wir wissen, hat in einer absoluten Tragödie geendet, weil der Andere die geopolitischen Realitäten damals nicht richtig erkannt bzw. eingeschätzt hat. Ich hoffe sehr, dass die Russen post Putin nicht vergleichbaren Täuschungen und Fehleinschätzungen unterliegen!
Wer sich für die Oligarchen-Szene in Russland interessiert und für deren Machtgefüge sowie die Relationen zum Kreml, dem empfehle ich http://johnhelmer.net
Vor ein paar Tagen hat @Falkenauge in einer geopolitischen Analyse auf den Tübinger Prof. Rainer Rothfuß verwiesen. Die dort zitierten Ansichten von Rothfuß sind falsch. Es gibt keine Nationalstaaten mehr, und alle Bemühungen, sie zu restaurieren werden fehlschlagen. Der Nationalstaat war nur eine ideologische Fiktion (zur Mobilisierung und Kontrolle der Massen) und bleibt geschichtlich gesehen ein Durchgangsstadium (ca. 1800-2000). Es gibt aktuell nur noch zwei übergeordnete Weltzentren, nämlich das westliche (USA, Europa, halb Russland) sowie das östliche (China). Beide arbeiten gegenüber den Bevölkerungen und Staaten in je ihrer eigenen Sphäre mit identischen (totalitären) Herrschaftstechniken und unterscheiden sich in dieser Hinsicht nur marginal voneinander. Die Auffassung von Rothfuß, dass China 'kommunistisch' sei, ist ebenfalls falsch. Im Westen wie in China wird gleichermaßen mit Kapital, Kredit und Unternehmertum instrumentell gearbeitet, wobei in China das zentrale Steuerzentrum (scheinbar) leichter auszumachen ist, während das Steuerzentrum des Westens sehr gut verborgen ist (wenigstens für die desinteressierte Öffentlichkeit).
Wie oben und andernorts erwähnt tendiert der Westen (USA, EU, RUSS) aktuell in Richtung Chaos. Es ist dies aber nur ein strategisches Manöver des westlichen Steuerzentrums (scheinbarer Rückzug bzw. 'gespielte' Auflösung). Dadurch soll (in den Augen der realen Akteure; ob das richtig ist oder falsch, bleibe dahingestellt ...) - dadurch also soll eine bessere Position für den SHUT-DOWN geschaffen werden. Dieser Shutdown wird in 'unserer Straße' stattfinden (Europa bis Ural sowie Mittelmeerraum). Dabei ist es relativ gleichgültig, wer die Sieger sein werden und wie die Grenzen verlaufen. Denn wie oben erwähnt, werden die Sieger in ihren eigenen Sphären jeweils auf die gleiche Art und Weise herrschen. Der Shutdown könnte nur verhindert werden durch eine umfassende und weitsichtige Kooperation Europa-Russland. Insofern war diese Bemerkung am Ende der Rede von Putin sehr, sehr wichtig. Aber weder das westliche noch das östliche Steuerzentrum (!!) haben ein Interesse daran, Europa und Russland kooperieren zu lassen. Einzelne Akteure in beiden Steuerzentren reden schon heute miteinander über die Aufteilung der Welt. Der ShutDown ist nur fürs Publikum - und, traurig genug, um die Zahl der Esser allgemein etwas zu reduzieren. Außerdem, natürlich, um hinterher wieder mal einen kernigen real-wirtschaftlichen**) Neuaufbau und Aufschwung zu ermöglichen.
Mit Bedauern, Weiner
*) wäre interessant für @Mephisto, weil darin bilderbuchmäßig eine russische IMPERATUR beschrieben wird
**) Nach der Amtseinführung von Biden wurde hier gefragt, wie es börsenmäßig weitergehen würde. Ich habe geantwortet, dass man nun der Börse einen blasen würde. Kurioserweise läuft das unter GAMESTOP!?! Ich empfehle die Lektüre des aktuellen Artikels von Ernst Wolff in MM-News.