Die schwule Perspektive der Dinge

Stagflati, Montag, 26.10.2020, 18:02 (vor 1890 Tagen) @ Oblomow2138 Views
bearbeitet von Stagflati, Montag, 26.10.2020, 18:37

Hallo Oblomow,

danke für Deine ernstgemeinte Rückfrage. Ich freue mich, dass Du Dich für das Thema interessierst.

Aber: Du hast mich ertappt. Den schwulen Blick auf die Dinge gibt es einerseits gar nicht, da wir alle in der selben Welt leben und theoretisch die gleichen Beobachtungen und Erfahrungen machen können. Insofern wäre eine Trennung von Hetero einerseits und schwul/lesbisch/bisexuell/transsexuell andererseits gar nicht zulässig, ja geradezu diskriminierend.

Andererseits prägt die Erfahrung des eigenen Andersseins einen Menschen. Dazu gehört die Erfahrung von Diskriminierung und Vorurteil, aber auch die Entwicklung und Erfahrung von Selbstbehauptung und Selbstannahme. Das Anderssein schafft so auch Sensibilität und einen skeptischen Blick.

Was muss der Schwule/Lesbe/Transsexuelle leisten, um anerkannt zu werden? Muss er mehr leisten als andere, „normale“ Menschen, um seinen „Makel“ zu kompensieren? In der Vergangenheit war das sicher zumindest tendenziell so. Auch darum sind Schwule oft genauer, sensibler, vielleicht sogar manchmal perfekter. Sie müssen sich im beruflichen und privaten Umfeld mehr behaupten und müssen dadurch tiefer in die Dinge einsteigen.

Andererseits ist natürlich jeder einzelne Mensch immer irgendwie anders und sehr speziell, egal ob es sich um einen Hetero oder einen Schwulen handelt. Und jeder befindet sich in einer ganz individuellen Lebenssituation mit individuellen Erfahrungen, Traumen, Träumen usw.. Es gibt schwule Massenmörder und schwule Heilige, so wie es heterosexuelle Massenmörder und heterosexuelle Heilige gibt, und alles dazwischen gibt es hier wie dort auch, zum Beispiel Dich und mich. Die Individualität eines jeden Menschen will ich nicht nivellieren. DEN Schwulen oder DEN Hetero gibt es nicht. Das wären Schubladen, und die setzen sich immer ins Unrecht.

Ich maße mir nicht an, das Thema komplett ausleuchten zu können, aber das ist erstmal meine Meinung dazu, als schwuler Mann, aber auch und zuallererst als Mensch.

P.S.: Homophobie ist, national und vor allem global gesehen, immer noch weit verbreitet. Zwischen der „Ehe für alle“ und der Todesstrafe ist alles vertreten. Auch hier im Forum gibt es sie, die Homophobie, nicht in Form von Rufen nach der Todesstrafe, aber subtiler. Wenn etwa @“Das alte Periskop“ unlängst und auf mein Outing hin, das sich so ergab wegen einer Witzelei über "tägliche Schwulenparaden", in einem an mich gerichteten Beitrag schreibt:

„Mein Faden ist keine Popo-Akquisitions-Plattform …… ich – und vielleicht einige andere (sind) – bin an deiner sexuellen Orientierung nicht interessiert. Mir reicht das ständige „Ausflaggen“ der NEUEN Normalität durch eine Noch-Minderheit. Vielleicht bist du auch ein Agent Provocateur, wäre aber belanglos! @HM, ich möchte dich keinesfalls als "Schiedsrichter" einbinden, aber wenn das Schule macht habe ich hier absolut nichts mehr verloren.“
Siehe hier: https://dasgelbeforum.net/index.php?id=542560

Hm, ist das nicht ein Paradebeispiel für Homophobie, noch dazu in forumsspezifischer Ausprägung als Verschwörungstheorie? Da ist eigentlich alles drin, was es für einen gut gewürzten Thriller braucht. Der „Agent Provocateur“, dann das Vorurteil, dass man durch Verführung zu einem Homosexuellen werden könnte („Noch-Minderheit“), das „Do not ask, do not tell“, das die Homosexualität als Makel zur Grundlage hat ("an Deiner sexuellen Orientierung nicht interessiert"), die unbotmäßige, sogenannte „Popo-Akquisition“ alias Schwulen-Propaganda (auch wieder Verführungstheorie), der Begriff „Ausflaggen“ für die vermeintliche Schwulen-Propaganda, die „NEUE Normalität“, so als wäre jetzt die Heterosexualität nicht mehr normal, und sodann als „letztes Mittel“ die Drohung damit, das Forum zu verlassen, um all dem Schmutz zu entkommen. Ist das alles nicht eher eine Unsicherheit des Schreibers mit dem Thema? Wovor hat er Angst? Kennt bzw. hat er in seinem Umfeld keine homosexuellen Menschen, dass er so urteilt?

Oder wenn etwa @DT über unseren Gesundheitsminister filosofiert, siehe z.B. hier:
https://dasgelbeforum.net/index.php?id=531148

Die „Rosette Spahn“, Anspielung auf Analverkehr, ha, wie witzig. Ich persönlich stehe übrigens gar nicht auf Analverkehr, Herr Spahn vielleicht auch nicht, ich weiß aber, dass die Prostata ein sehr sensibles Lustzentrum des Mannes ist. Es soll sogar so manchen Hetero geben, die sich was in den Popo einführt, um die Prostata zu stimulieren. Ja, sorry, aber bitte einfach mal locker und ehrlich sein bei solchen Dingen.

Die unterschwellige oder offene Homophobie ruft mich natürlich auf den Plan, weil ich sie für unnötig und verletzend halte. Ich komme aus einem katholischen Haushalt, und als ich 17 Jahre alt war, habe ich mich meiner Mutter anvertraut, ein wenig zumindest, und hab ihr gesagt: „Ich könnte mir vorstellen, dass ich einen Jungen genauso gern haben könnte wie ein Mädchen“. Das war natürlich stark untertrieben, da ich mir überhaupt nicht vorstellen konnte, ein Mädchen (erotisch) gern zu haben. Aber es schien mir nicht so brutal, es ihr SO zu sagen. Sie hat dann nur schmallippig geantwortet: „Man kann sich nicht gegen die Gesellschaft stellen“. Es hat lange gedauert, bis sie sich so weit geöffnet hat, dass ich meinen Lebensgefährten mit zu ihren Geburtstagsfeiern mitbringen konnte, und selbst dort hat dann noch ein Gast gesagt: „Ich bin ja nicht so für die Schwulen und Lesben“. Ja, das alles prägt.

So, nun haben wir schön geplaudert, und sehr offen, und nun genug des Seelen-Striptease, die „Schwuchtel“ macht sich womöglich nur wichtig. Nein, ich weiß, dass das nicht DEINE Meinung ist. Aber dies hier ist in der Tendenz bestimmt kein Forum von Schwulenfreunden. Ich will auch das Thema nicht in den Vordergrund schieben. Aber Du hast gefragt, und ich habe nun geantwortet. Danke dafür.

Gruß
Stagflati


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