Der radikale Konstruktivismus und die Abschaffung der Wahrheit
Der radikale Konstruktivismus, Wikipedia-Definition:
„Der Radikale Konstruktivismus ist eine Position der Erkenntnistheorie, die sich deutlich von anderen Konstruktivismen unterscheidet. Eine der Grundannahmen des radikalen Konstruktivismus ist, dass die persönliche Wahrnehmung nicht das Abbild einer Realität produzieren kann, welche unabhängig vom Individuum besteht, sondern dass Realität für jedes Individuum immer nur eine Konstruktion seiner eigenen Sinnesreize und seiner Gedächtnisleistung bedeutet. Deshalb ist Objektivität im Sinne einer Übereinstimmung von wahrgenommenem (konstruiertem) Bild und Realität unmöglich; jede Wahrnehmung ist vollständig subjektiv. Darin besteht die Radikalität (Kompromisslosigkeit) des radikalen Konstruktivismus.“
@Ashitaka hat am 30.05.2013 ein verwandtes Weltbild vorgestellt:
„Denken, Wahrnehmen, Fühlen, Glauben, Wissen .... das sind für mich alles Modellierungen eines neuronalen Korrelats. Der Begriff "Wahrnehmung" hat mich und die Neurowissenschaft wohl lange genug irre geführt.
Sowie Thomas Metzinger begreife ich mich und meine Selbstmodelle (körperlich, global, universell) mittlerweile als eine Umgebung, die nur als Emulationen bestehen können.
Das ist ein sehr befreiendes Weltbild, auch wenn es so zunächst nicht verstanden werden kann. Dies liegt vorrangig daran, dass wir von einer Physik ausgehen, die geometrisch gedacht (modelliert) wird, und wir deshalb gezwungen sind, zwischen "Innen & Außen" zu unterscheiden.“
@Silke hat mich kürzlich auf diesen Beitrag aufmerksam gemacht.
Ich möchte einmal kurz beleuchten, was eine solche erkenntnistheoretische Grundlage für Auswirkungen hat:
Wenn wir annehmen, dass eine objektive Realität, unabhängig von der individuellen Erfahrung, nicht existiert, dann können verschiedene Individuen über einen Sachverhalt höchstens zufällig zum gleichen Ergebnis kommen. Es bedeutet auch, dass die Wirklichkeiten aller Individuen untereinander gleichwertig sind, denn kein Individuum kann zu besserer oder mehr Erkenntnis fähig sein als ein anderes.
Auf dieser Grundlage kann es eine Unterscheidung zwischen Lüge und Wahrheit nicht geben. Wahr ist das, was mein Selbstmodell als Wahrheit modelliert. Ich kann meine Sichtweise, wenn sie von der Sichtweise der meisten anderen Individuen abweicht, mit Fug und Recht als „alternative facts“ bezeichnen. Wieso sollte die Realität der Anderen Vorrang vor meiner eigenen Realität haben? Der radikale Konstruktivismus ist damit für mich die erkenntnistheoretische Grundlage des postfaktischen Zeitalters. Die Relotiuspresse lügt nicht: Sie schafft Realität! Was als wahr simuliert wird, ist auch wahr.
Das bedeutet auch, dass es keine Rechtfertigung mehr für eine Justiz gibt, denn auf Grundlage von wessen Simulation der Welt sollte das Gericht denn urteilen? Wieso sollte die Realität der Zeugen mehr Gewicht haben als die Realität des Täters? Wo keine Objektivität existiert, kann es auch keine Gerechtigkeit geben, keine Verbrechen, keine Täter, keine Opfer, keine Verantwortung, keine Geschichte. Ohne objektive Realität ist alles nichts.
Ich halte daher den radikalen Konstruktivismus für eine außerordentlich gefährliche Geisteshaltung.
Was meint Ihr?
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"Nur die Lüge benötigt die Stütze der Staatsgewalt. Die Wahrheit steht von alleine aufrecht."
Thomas Jefferson