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Buchbesprechung: Die Gelehrten - Der Niedergang der deutschen Mandarine
Was ist ein Mandarin?
Mandarine waren im chinesischen Kaiserreich Beamte, Gelehrte oder Richter, die nach einer jahrelangen, elitären Ausbildung, die den Zweck verfolgte nur die fähigsten Köpfe zum Staatsdienst zuzulassen, in den Staatsdienst übernommen wurden. Die gesamte kaiserlich-chinesische Staatsbürokratie - vom Schullehrer bis zum Berater des chinesischen Kaisers - bestand aus jenen Mandarinen. Die Mandarine sind demzufolge die verbeamtete Bildungselite des chinesischen Kaiserreichs gewesen.
Wer sind die "deutschen Mandarine"?
Ringer übernimmt den Ausdruck Mandarin für die deutschen Gelehrten des 19. und des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts. Er folgt damit einer Metapher Max Webers (1864-1920), der mit seinen Studien über China gleichzeitig eine Philippika gegen die zeitgenössische Gelehrtenszene der 'Wilhelminischen Zeit' geleistet hatte.
Ringer bezeichnet mit dem "deutschen Mandarin" einen 'Idealtypus', und zwar den typischen Vertreter der Bildungselite des Bismarck-Reiches bis zum Ende der Weimarer Republik, die sich selbst als gesellschaftliche und kulturelle Elite des Deutschen Reiches sah. Eine 'soziale Führungsschicht', die den kulturellen Führungsanspruch und ihre gesellschaftliche Stellung - und die daraus für sich abgeleiteten Privilegien - aufgrund ihrer elitären Bildung beanspruchten.
Die Stellung der "deutschen Mandarine" resultierte aus ihrer akademischen Bildung, also aus eigener Leistung und nicht aus ererbten Pfründen oder sonstigen, ähnlichen Umständen.
Daraus folgt, dass Ringer in seine Analyse alle akademisch gebildeten Berufsstände hätte einbeziehen sollen. Doch sind z. B. Naturwissenschaftler in der Untersuchung kaum auszumachen; das Schwergewicht verortet sich bei Ringer auf die Geistes-, Sozial- und Staatswissenschaftler - und hier wiederum nimmt Ringer vornehmlich die Spitze dieser Gruppen, nämlich die Universitätsprofessoren (die Ordinarien), unter die Lupe.
Nach einem kurzen historischen Abriss zur Entwicklungsgeschichte der 'Gelehrten', welche die Zeit zwischen 1700 und 1890 umfasst, liegt das Hauptaugenmerk Ringers auf den Jahrzehnten des Niedergangs, der gemäß Ringer um 1890 eingesetzt hat.
Ihre hohe Zeit hatten die "deutschen Mandarine" für Ringer in der Übergangszeit von der Agrarwirtschaft zur Industrialisierung gehabt. In diesen Jahren, vorwiegend in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts verortet Ringer durchaus vielversprechende liberale Ansätze bei den "deutschen Mandarinen". Doch in der Folge der Revolutionsjahre von 1848/49 und ganz besonders in den Jahren nach der Reichsgründung durch Bismarck sind jene liberalen Einflüsse mehr und mehr zurückgedrängt worden, so dass die "deutschen Mandarine" zur intellektuellen Speerspitze für die konstitutionelle Monarchie des Deutschen Reiches wurden. Ringer dazu wörtlich: "Vor dem Ende des Jahrhunderts war die deutsche akademische Welt insgesamt in die Rolle eines konservativen und offiziösen Establishments geraten."
Die ersten beiden Jahrzehnte des Bismarck-Reiches werden allgemein als 'Gründerjahre' oder 'Gründerzeit' beschrieben. Eine breite, umfassende Industrialisierung des Deutschen Reiches vollzog sich. Durch diese Industrialisierung wuchsen neue und einflussreiche gesellschaftliche Schichten heran. Nämlich das ganze Umfeld der erfolgreichen Unternehmer, Industriellen, Wirtschaftsführer usw., welche in wichtigen Teilen mit Erfolg den "deutschen Mandarinen" ihre gesellschaftliche und kulturelle Führungsrolle streitig machten.
Bildungspolitisch forderten jene neuen Schichten neue Wege ein, die von Kaiser Wilhelm II. wohlwollend aufgenommen und gefördert wurden. Die mehr oder weniger elitäre und praxisferne Universitätsbildung sollte zumindest um 'Realien' flankierend ergänzt werden. D. h., es wurde eine anwendungsbezogene und praxisnahe Wissenschaft eingefordert. Jene neuen, einflussreichen Gruppen machten ihren Einfluss geltend, um das Realgymnasium und die preußische Oberrealschule gleichberechtigt neben dem humanistischen Gymnasium zu stellen. Im akademischen Bereich förderten jene neuen Schichten die Etablierung der Polytechnika, so dass aus diesen Ingenieurschulen teilweise Technische Hochschulen in Konkurrenz zur Universität erwuchsen.
Die "deutschen Mandarine", allesamt vom humanistischen Gymnasium kommend und der elitären Universitätsbildung verbunden, befanden sich folglich auf ihrem ureigensten Gebiet, der Bildung, gleich auf mehreren Positionen in der Defensive.
Ringer unterteilt nun die "deutschen Mandarine" in "Orthodoxe" und "Modernisierer", wobei für Ringer die "Modernisierer' eindeutig die Minderheit bei den "deutschen Mandarinen' stellten.
"Orthodoxe", wie der berühmte Alt-Historiker Eduard Meyer (1855-1930), wollten an der einzigartigen Stellung des humanistischen Gymnasiums nicht gerüttelt wissen - ebenfalls sollte den Absolventen der Polytechnika der höhere Staatsdienst verwehrt bleiben. Eduard Meyer vertrat die Meinung, dass gerade das humanistische Gymnasium eine harte, aber effiziente intellektuelle Schmiede darstelle; wer diese erfolgreich durchlaufen habe, würde auch im Leben erfolgreich sein. Wäre also, um hier einen Ausdruck von Max Weber - nach Ringer ein Modernisierer - zu gebrauchen, reif sein, um im 'Stahlgehäuse der Moderne' bestehen zu können.
Die "Modernisierer" hingegen waren bereit sich mit Neuerungen zu arrangieren und behutsam neue Wege zu versuchen und einzuschlagen, um erfolgversprechende Chancen auszuloten. Es waren dies Gelehrte, die zugestanden, dass in einem vollindustrialisierten Land wie dem Deutschen Reich auch die angewandte Forschung und damit der Praxisbezug der Wissenschaft von Nöten war.
Was beide Gruppen miteinander verbunden hat, das war Kulturpessimismus. Die schnelle Umwandlung des Deutschen Reiches in eine Industrienation beobachteten die "deutschen Mandarine" misstrauisch.
Insbesondere der rapide Umbruch von einem durch Landwirtschaft geprägten, urwüchsigen und bodenständigen Menschenschlag hin zum entwurzelten, bindungslosen Arbeiter der großstädtischen Großbetriebe bereitete den "deutschen Mandarinen" Sorgen.
Anhand der ausgewählten Publikationen jener Zeit, die Ringer vorstellt und - zuweilen relativ ausführlich und breit - diskutiert, ist ersichtlich, dass die "Orthodoxen" diesbezüglich das Schlimmste zuerst argwöhnten, während die "Modernisierer" im Vergleich dazu verhalten pessimistisch waren. Die Sorge vor geistiger Entleerung, billigem Materialismus, Erschlaffung der Wehrtüchtigkeit, Furcht vor den Massen, Frontstellung gegen die sozialistischen Parteien usw., dies war beiden Gruppen gemein, so dass es nicht immer leicht ist zwischen "Orthodoxen" und "Modernisierer" exakt zu unterscheiden. Die Trennlinien zwischen den beiden Gruppen - hier "Orthodoxe", dort "Modernisierer" - fließen vielmehr oft genug ineinander über. Aus heutiger Sicht fällt es sowieso schwer in den von Ringer benannten "Modernisierern" keine konservativen Reaktionäre zu sehen. Ein Leser des Buches sollte sich stetig in Erinnerung rufen, dass der Zeitgeist damals ein gänzlich anderer war als heute; denn beide Gruppen der "deutschen Mandarine" waren 'preußisch-deutsch' sozialisiert worden und ihre bevorzugte Staatsform war mehr oder weniger uneingeschränkt das der konstitutionellen Monarchie gewesen.
Der Ausbruch des I. Weltkriegs wurden von der übergroßen Mehrheit der "deutschen Mandarine" geradezu begeistert begrüßt. Doch trotz aller Zustimmung der "deutschen Mandarine" zum 'gerechten Krieg', Ringer differenziert auch hier zwischen "Orthodoxen" und "Modernisierer".
Die "Orthodoxen" standen fest zu den deutschen Kriegszielen und der deutschen politischen Führung. Für den Fall eines deutschen Siegfriedens forderten die "Orthodoxen" weitgehende Annexionen im Osten und im Westen. Die "Orthodoxen" gebärdeten sich mehr als übertrieben nationalistisch. Die Novemberrevolution von 1918 und die Weimarer Republik wurden von den "Orthodoxen" rundweg abgelehnt, publizistisch vehement bekämpft und auch lächerlich gemacht.
Hingegen zeichnet Ringer bei den "Modernisierer" zwar auch einen teilweise pathetischen Patriotismus nach, gesteht ihnen aber einen gewissen und offenen Hang zum Weltbürgertum zu. Auch die neuen Gegebenheiten durch die Weimarer Republik haben - lt. Ringer - jene "Modernisierer" akzeptiert und durchaus organisierte Gruppen von republikanisch gesinnten "deutschen Mandarinen" gebildet. Dies sehe ich anders. Es mag republikanisch gesinnte "deutsche Mandarine" gegeben haben, doch unter den von Ringer immer wieder aufgezählten prominenten Professoren-Namen halte ich nur Alfred Weber für einen Republikaner. Die übrigen Professoren sind m. E. nur Zweck-Republikaner gewesen, deren Ideal nach wie vor die konstitutionelle Monarchie darstellte.
Das Ende der "deutsche Mandarine" als elitäre geistige Führungsschicht war - lt. Ringer - mit der sog. 'Deutschen Revolution' von 1933 gekommen. Also mit dem 'Dritten Reich', in welchem Universität und Wissenschaft rasch gleichgeschaltet worden sind. Verschiedene Kommentatoren von Ringers Buch sahen dies etwas anders. Diese meinten, dass der endgültige Abgesang auf die "deutsche Mandarine" erst durch die Studentenrevolten der sog. '1968er' erfolgt ist.
Ringers Buch zu lesen ist meiner Meinung nach interessant und lehrreich. Es finden sich in den Analysen Ringers viele Winke, die zeigen, dass reichlich Dinge, die heute z. B. in der 'veröffentlichten Meinung' der deutschen Medienlandschaft in der einen oder anderen Variante vielfach präsent sind, schon in der 'Wilhelminischen Zeit' präsent waren. Dazu zählen meiner Meinung nach etliche kulturpessimistische Momente, die Technikfeindlichkeit, das feindselige Unverständnis in Wirtschaftsfragen und andere Dinge mehr.
Zuzugestehen ist, dass die soziale Welt der "deutsche Mandarine" Ringers vergangen ist, doch in der heutigen gängigen Intellektuellenszene finden sich viele Parallelen zu Umständen, die in Ringers Untersuchung auch vorkommen. Oder anders ausgedrückt, wie bei einer Parallelverschiebung im Vektorraum haben sich die Dinge nur auf eine andere Ebene verschoben.
Damals wie heute wollen viele Intellektuelle meinungsbildend sein, dem Volk das Denken vorgeben, bzw. das Vorschreiben was das Volk zu denken hat und denken darf. Grob gesprochen: Auch sehen viele der heutigen Intellektuellen in 'Vox populi' vielfach nur 'Vox Rindvieh' - und 'Vox populi' können nur sie - die 'wahren' Intellektuellen - in die richtigen Bahnen lenken. Folglich haben sich viele der intellektuellen Anmaßungen - die 'geistige und soziale Führungskraft' in Staat und Gesellschaft zu beanspruchen - seit der 'Wilhelminischen Zeit' kaum geändert.
Ebenfalls unverändert wie zu Kaisers Zeiten ist der heutige Drang spezieller Arten von Intellektuellen eine staatlich besoldete Anstellung zu ergattern, von welcher dann herablassend und verächtlich auf das im Erwerbsleben stehende Volk, welches solche Intellektuellen durch Volkes Arbeit zu ernähren hat, herabgeblickt wird. Der französische Schriftsteller und Philosoph Julien Benda (1867-1956) titelte diese Arroganz der intellektuellen Klasse schon vor vielen Jahrzehnten mit einem Essay: "Der Verrat der Intellektuellen".