ILAN PAPPÉ
Buchempfehlung: Die ethnische Säuberung Palästinas
Aus dem Englischen von Ulrike Bischoff
Vorwort
Das Rote Haus
Wir betrauern nicht den Abschied
Wir haben keine Zeit für Tränen
Wir begreifen nicht den Moment des Abschieds
Aber es ist der Abschied
Und uns bleiben nur die Tränen
- Muhammad Ali Taha (1988), Flüchtling aus Saffuriyya
»Ich bin für Zwangsumsiedlung; darin sehe ich nichts Unmoralisches.«
- David Ben Gurion an die Exekutive der Jewish Agency, Juni 1938 [1]
Das »Rote Haus«, ein typischer Bau aus den Gründerjahren Tel Avivs, war der ganze Stolz der jüdischen Bauarbeiter und Handwerker, die es in den 1920er Jahren als Hauptsitz des örtlichen Arbeiterverbandes errichteten. Diese Funktion behielt es bis Ende 1917, als die Hagana, die größte zionistische Untergrundmiliz in Palästina, es zu ihrem Hauptquartier machte. Es stand in Küstennähe an der Yarkon Street im Norden Tel Avivs und bildete eine schöne Ergänzung für die erste »hebräische« Stadt am Mittelmeer, die »Weiße Stadt«, wie Literaten und Intellektuelle sie liebevoll nannten. Denn im Unterschied zu heute tauchte damals das makellose Weiß der Häuser die ganze Stadt noch in das opulente Licht, das so typisch war für mediterrane Hafenstädte dieser Region in jener Zeit. Die elegante Verbindung von Bauhausmotiven mit heimischer palästinensischer Architektur zu einer Mischung, die man im positivsten Sinne als levantinisch bezeichnete, machte die Stadt zu einer wahren Augenweide. Und das galt auch für das »Rote Haus« mit seinen schlichten kubischen Formen und den Rundbögen, die den Eingang rahmten und die Balkons in den beiden Obergeschossen trugen. Zu seinem Namen kam das Haus entweder, weil die Verbindung zur Arbeiterbewegung das Attribut »rot« nahelegte oder weil es bei Sonnenuntergang eine rötliche Färbung annahm. [2] Die erste Erklärung war passender, da das Gebäude auch später noch mit der zionistischen Sozialismusvariante assoziiert wurde, als die israelische Kibbuzbewegung in den 1970er Jahren hier ihren Hauptsitz hatte. Häuser wie dieses waren bedeutende historische Denkmäler der Mandatszeit und veranlassten die UNESCO 2003, Tel Aviv in die Liste des Weltkulturerbes aufzunehmen.
Das Rote Haus existiert heute nicht mehr. Das architektonische Relikt fiel dem Bauboom zum Opfer und wurde abgerissen, um Platz für ein Parkhaus neben dem neuen Sheraton Hotel zu schaffen So ist auch in dieser Straße keine Spur mehr von der »Weißen Stadt« zu finden, die sich nach und nach in das moderne Tel Aviv verwandelt hat eine ausufernde, verpestete, extravagante Metropole.
In diesem Gebäude saßen am 10. März 1948, einem kalten Mittwochnachmittag, elf Männer zusammen – altgediente zionistische Führer und junge jüdische Offiziere – und legten letzte Hand an einen Plan für die ethnische Säuberung Palästinas. Noch am selben Abend ergingen militärische Befehle an die Einheiten vor Ort, die systematische Vertreibung der Palästinenser aus weiten Teilen des Landes vorzubereiten [3]. Die Befehle gaben detailliert die Einsatzmethoden zur Zwangsräumung vor groß angelegte Einschüchterungen, Belagerung und Beschuss von Dörfern und Wohngebieten, Niederbrennen der Häuser mit allem Hab und Gut, Vertreibung, Abriss und schließlich Verminung der Trümmer, um eine Rückkehr der vertriebenen Bewohner zu verhindern. Jede Einheit erhielt eine Liste mit Dörfern und Stadtvierteln, den Zielen dieses Masterplans. Er trug den Codenamen Plan D (Dalet in Hebräisch) und war die vierte und endgültige Version vorausgegangener Planungen für das Schicksal, das die Zionisten für Palästina und seine heimische Bevölkerung vorsahen. Die ersten drei Pläne hatten nur vage umrissen, wie die zionistische Führung mit der Anwesenheit so vieler Palästinenser in dem Land, das die jüdische Nationalbewegung für sich haben wollte, umzugehen gedachte. Diese vierte und letzte Blaupause sprach es klar und deutlich aus: Die Palästinenser mussten raus. [4] Als einer der ersten Historiker erkannte Simcha Flapan die Bedeutung dieses Plans, er schrieb »Das militärische Vorgehen gegen die Araber einschließlich der ›Eroberung und Zerstörung ländlicher Gebiete‹ war Teil des ›Plans Dalet‹ der Hagana.« [5] Ziel des Plans war tatsächlich die Zerstörung ländlicher wie auch städtischer Gebiete Palästinas.
Wie die ersten Kapitel dieses Buches zu zeigen versuchen, war dieser Plan einerseits das zwangsläufige Ergebnis der ideologischen zionistischen Bestrebung, in Palästina eine ausschließlich jüdische Bevölkerung zu haben, und andererseits eine Reaktion auf Entwicklungen vor Ort, nachdem die britische Regierung beschlossen hatte, das Mandat zu beenden. Zusammenstöße mit palästinensischen Milizen boten einen perfekten Kontext und Vorwand, die ideologische Vision eines ethnisch gesäuberten Palästina umzusetzen. Die zionistische Politik zielte zunächst auf Vergeltungsschläge für palästinensische Angriffe im Februar 1947 und mündete im März 1948 in eine Initiative, das ganze Land ethnisch zu säubern. [6]
Nachdem die Entscheidung gefallen war, dauerte es sechs Monate, den Befehl auszuführen. Als es vorbei war, waren mehr als die Hälfte der ursprünglichen Bevölkerung Palästinas, annähernd 800.000 Menschen, entwurzelt, 531 Dörfer zerstört und elf Stadtteile entvölkert. Der am 10 März 1948 beschlossene Plan und vor allem seine systematische Umsetzung in den folgenden Monaten war eindeutig ein Fall ethnischer Säuberung, die nach heutigen Völkerrecht als Verbrechen gegen die Menschlichkeit gilt.
Nach dem Holocaust ist es fast unmöglich geworden, Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu vertuschen. Unsere moderne, von Kommunikation gestützte Welt lässt es besonders seit dem Aufkommen elektronischer Medien nicht mehr zu, von Menschen verschuldete Katastrophen vor der Öffentlichkeit zu verbergen oder zu leugnen. Und dennoch ist ein solches Verbrechen fast vollständig aus dem weltweiten öffentlichen Gedächtnis gelöscht worden, nämlich die Vertreibung der Palästinenser durch Israel 1948.
Dieses höchst prägende Ereignis in der modernen Geschichte des Landes Palästina wurde seit damals systematisch geleugnet und ist bis heute nicht als historische Tatsache, geschweige denn als ein Verbrechen anerkannt, dem man sich politisch wie moralisch zu stellen hat.
Ethnische Säuberung ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, und die Menschen, die es begehen, gelten heute als Verbrecher, die es vor spezielle Tribunale zu bringen gilt. Es mag schwer zu entscheiden sein, wie man diejenigen, die 1948 in Palästina die ethnischen Säuberungen in die Wege leiteten und durchführten, bezeichnen soll oder wie juristisch mit ihnen zu verfahren sei. Aber man kann durchaus ihre Verbrechen rekonstruieren und zu einer zutreffenderen geschichtlichen Darstellung als bisher und auch zu einer moralischen Einstellung von größerer Integrität gelangen.
Wir kennen die Namen derer, die in jenem Raum im obersten Stock des Roten Hauses saßen, umgeben von marxistischen Postern mit Parolen wie »Waffenbrüder« und »Die stählerne Faust« und darauf abgebildeten »neuen« – muskulösen, gesunden, sonnengebräunten – Juden, die hinter Verteidigungsstellungen ihre Gewehre im »tapferen Kampf« gegen »feindliche arabische Invasoren« richteten. Wir kennen auch die Namen der Offiziere, die die Befehle an Ort und Stelle ausführten. Alle sind bekannte Persönlichkeiten im Pantheon israelischer Helden. [7] Vor nicht allzu langer Zeit lebten viele von ihnen noch und spielten eine wichtige Rolle in Israels Politik und Gesellschaft; mittlerweile sind nur noch sehr wenige von ihnen unter uns.
Palästinensern und allen, die sich weigerten, die zionistische Darstellung zu übernehmen, war schon lange, bevor dieses Buch geschrieben wurde, klar, dass diese Leute Verbrechen begangen hatten, aber der Justiz erfolgreich entgangen waren und wahrscheinlich nie für ihre Taten vor einem Gericht zur Rechenschaft gezogen würden. Abgesehen von dem erlittenen Trauma war es für Palästinenser zutiefst frustrierend, dass das verbrecherische Tun, für das diese Männer verantwortlich waren, seit 1948 so gründlich geleugnet und das Leid der Palästinenser so vollständig ignoriert wurde.
Vor etwa dreißig Jahren begannen die Opfer der ethnischen Säuberung das historische Bild, das die offizielle israelische Darstellung von der Zeit von 1948 mit allen Mitteln vertuscht oder verdreht hatte, wieder zu rekonstruieren. Das Märchen, das die israelische Geschichtsschreibung erfunden hatte, sprach von massivem »freiwilligem Transfer« Hunderttausender Palästinenser, die sich entschlossen hätten, vorübergehend ihre Häuser und Dörfer zu verlassen, um den vordringenden arabischen Truppen Platz zu machen, die den jungen jüdischen Staat vernichten wollten. In den 1970er Jahren sammelten palästinensische Historiker, namentlich Walid Khalidi, authentische Erinnerungen und Dokumente über das, was ihrem Volk zugestoßen war, und konnten so einen beträchtlichen Teil des Bildes wiederherstellen, das Israel auszulöschen versucht hatte. Sehr schnell wurden sie jedoch übertönt von Publikationen wie Dan Kurzmans Genesis 1948, das 1970 erschien und 1992 neu aufgelegt wurde (dieses Mal mit einer Einleitung von einem Mann, der an der Ausführung der ethnischen Säuberung Palästinas beteiligt war, Yitzhak Rabin, zu dieser Zeit Ministerpräsident Israels). Es gab jedoch auch manche, die die palästinensischen Bemühungen unterstützten. So erhärtete Michael Palumbo in seinem Buch The Palestinian Catastrophe (1987) die palästinensische Version der Ereignisse von 1948 anhand von UN-Dokumenten und Interviews mit palästinensischen Flüchtlingen und Exilanten, deren Erinnerungen an das, was sie während der Nakba durchgemacht hatten, noch erschreckend lebendig war. [8]
Im Ringen um die Erinnerung in Palästina hätte es zu einem politischen Durchbruch kommen können, als in den 1980er Jahren die »neue Geschichte« in Israel aufkam. Eine kleine Gruppe israelischer Historiker versuchte damals die zionistische Darstellung des Krieges von 1948 zu revidieren. [9] Ich war einer von ihnen. Aber wir, die neuen Historiker, leisteten nie einen signifikanten Beitrag zum Kampf gegen die Leugnung der Nakba, da wir die Frage der ethnischen Säuberung umgingen und uns auf Details konzentrierten, wie es für diplomatische Historiker typisch ist. Dennoch gelang es den revisionistischen israelischen Historikern – in erster Linie anhand von israelischen Militärarchiven – zu zeigen, wie falsch und absurd die israelische Behauptung war, die Palästinenser hätten das Land »aus freien Stücken« verlassen. Sie konnten viele Fälle massiver Vertreibungen aus Dörfern und Städten nachweisen und enthüllen, dass die jüdischen Truppen eine beträchtliche Zahl von Gräueltaten bis hin zu Massakern begangen hatten.
Eine der bekanntesten Persönlichkeiten, die über dieses Thema schrieb, war der israelische Historiker Benny Morris. [10] Da er sich ausschließlich auf Dokumente aus israelischen Militärarchiven stützte, gelangte Morris zu einem sehr einseitigen Bild des Geschehens vor Ort. Manchen seiner israelischen Leser genügte es jedoch, um zu erkennen, dass die »freiwillige Flucht« der Palästinenser ein Mythos war und das israelische Selbstbild, 1948 einen »moralischen« Krieg gegen eine »primitive« und feindselige arabische Welt geführt zu haben, voller Fehler und möglicherweise eine komplette Fälschung war.
Morris' Bild war einseitig, weil er die israelischen Militärberichte, die er in den Archiven fand, für bare Münze nahm. So konnte er von Juden begangene Gräueltaten ignorieren, wie das Vergiften der Wasserversorgung von Akko (Acre) mit Typhus, zahlreiche Fälle von Vergewaltigung und Dutzende Massaker. Außerdem beharrte er – zu Unrecht – darauf, dass es vor dem 15. Mai 1948 keine Zwangsräumungen gegeben habe. [11] Palästinensische Quellen belegen eindeutig, dass es den jüdischen Truppen schon Monate vor dem Einmarsch arabischer Truppen in Palästina, während die Briten noch für Recht und Ordnung im Land zuständig waren – nämlich vor dem 15. Mai –, gelungen war, nahezu eine Viertelmillion Palästinenser zwangsweise zu vertreiben. [12] Hätten Morris und andere Historiker auch arabische Quellen verwendet oder mündlich überlieferte Geschichte hinzugezogen, wären sie vielleicht besser in der Lage gewesen, die systematische Planung zu erkennen, die hinter der Vertreibung der Palästinenser 1948 stand, und eine wahrheitsgetreuere Darstellung der ungeheuren Verbrechen zu geben, die die israelischen Soldaten begangen haben.
Damals wie heute besteht eine historische und politische Notwendigkeit, über solche Darstellungen, wie sie bei Morris zu finden sind, hinauszugehen, und zwar nicht nur, um das Bild (um die andere Hälfte) zu vervollständigen, sondern auch – was weitaus wichtiger ist –, weil es für uns keinen anderen Weg gibt, die Wurzeln des gegenwärtigen israelisch-palästinensischen Konflikts umfassend zu verstehen. Vor allem aber besteht selbstverständlich ein moralischer Imperativ, den Kampf gegen die Leugnung dieser Verbrechen weiterzuführen. Diese Bestrebungen wurden bereits von anderen begonnen. Das bedeutendste Werk – was angesichts seiner vorherigen beträchtlichen Beiträge zum Kampf gegen die Leugnung durchaus zu erwarten war – ist Walid Khalidis bahnbrechendes Buch All That Remains. Dieser Almanach der zerstörten Dörfer ist nach wie vor unverzichtbar für jeden, der die ungeheuren Ausmaße der Katastrophe von 1948 begreifen möchte. [13]
Eigentlich hätte die bereits aufgedeckte Geschichte dazu führen müssen, dass man sich beunruhigende Fragen stellt. Doch die Darstellung der »neuen Geschichte« und die jüngeren Beiträge palästinensischer Geschichtsforschung drangen nicht in den öffentlichen Bereich moralischen Bewusstseins und Handelns vor. In diesem Buch möchte ich sowohl die Mechanismen der ethnischen Säuberung von 1948 als auch das kognitive System untersuchen, das es der Welt und den Tätern ermöglichte, die von der zionistischen Bewegung 1948 am palästinensischen Volk begangenen Verbrechen zu vergessen beziehungsweise zu leugnen.
Mit anderen Worten: Ich möchte das Paradigma ethnischer Säuberung etablieren und anstelle des Kriegsparadigmas zur Basis der wissenschaftlichen Forschung und öffentlichen Debatte über die Ereignisse von 1948 machen. Für mich steht außer Zweifel, dass das bisherige Fehlen des Paradigmas ethnischer Säuberung mit ein Grund ist, weshalb die Katastrophe so lange geleugnet werden konnte. Als die zionistische Bewegung ihren Nationalstaat gründete, war es keineswegs so, dass sie einen Krieg führte, der »tragischerweise, aber unvermeidbar« zur Vertreibung eines »Teils« der heimischen Bevölkerung führte; vielmehr war es umgekehrt: Hauptziel war die ethnische Säuberung ganz Palästinas, das die Bewegung für ihren neuen Staat haben wollte. Einige Wochen, nachdem die ethnischen Säuberungsaktionen begonnen hallen, schickten die benachbarten arabischen Staaten eine kleine Armee – klein, gemessen an ihrer gesamten militärischen Stärke – und versuchten vergeblich, die ethnische Säuberung zu verhindern. Bis sie im Herbst 1948 erfolgreich abgeschlossen war, brachte der Krieg mit den regulären arabischen Truppen die ethnische Säuberung nicht zum Stillstand.
Manchen mag diese Herangehensweise – das Paradigma ethnischer Säuberung a priori als Basis für die Darstellung der Ereignisse von 1948 zu nehmen – vom Ansatz her als Anklage erscheinen. In mancherlei Hinsicht ist es tatsächlich mein eigenes J'accuse! gegen die Politiker, die die ethnische Säuberung planten, und gegen die Generäle, die sie durchführten. Aber wenn ich ihre Namen nenne, so tue ich es nicht, weil ich sie posthum vor Gericht gestellt sehen möchte, sondern um Tätern wie Opfern ein Gesicht zu verleihen: Ich möchte verhindern, dass die Verbrechen, die Israel begangen hat, auf so schwer fassbare Faktoren geschoben werden wie »die Umstände«, »die Armee« oder, wie Morris sagt, »à la guerre comme à la guerre« und ähnlich vage Verweise, die souveräne Staaten aus der Verantwortung entlassen und Individuen straflos davonkommen lassen. Ich klage an, aber ich bin auch Teil der Gesellschaft, die in diesem Buch verurteilt wird. Ich fühle mich sowohl verantwortlich für als auch beteiligt an der Geschichte und bin ebenso wie andere in meiner Gesellschaft überzeugt – wie der Schluss dieses Buches zeigt –, dass eine derart schmerzhafte Reise in die Vergangenheit der einzige Weg nach vorn ist, wenn wir eine bessere Zukunft für uns alle, Palästinenser wie Israelis, schaffen wollen. Darum geht es in diesem Buch.
Soviel ich weiß, hat bisher noch niemand einen solchen Ansatz versucht. Die beiden offiziellen historischen Darstellungen, die um das Geschehen 1948 in Palästina konkurrieren, ignorieren beide den Begriff der ethnischen Säuberung. Die Version der Zionisten/Israelis behauptet, die lokale Bevölkerung sei »freiwillig« gegangen, und die Palästinenser sprechen von der »Katastrophe«, der Nakba, die sie ereilt habe, was in gewisser Weise auch ein ausweichender Begriff ist, da er sich mehr auf das Unglück an sich als darauf bezieht, wer oder was es verursacht hat. Der Begriff Nakba wurde aus verständlichen Gründen in dem Versuch gewählt, dem moralischen Gewicht des Holocaust an den Juden (Shoa) etwas entgegenzusetzen, aber da er die Täter ausspart, mag er in gewisser Weise dazu beigetragen haben, dass die Welt die ethnische Säuberung Palästinas 1948 und danach fortwährend leugnete.
Dieses Buch beginnt mit einer Definition ethnischer Säuberung, die, wie ich hoffe, transparent genug ist, um für alle annehmbar zu sein, eine Definition, die als Grundlage für die strafrechtliche Verfolgung von Tätern gedient hat und dient, die solche Verbrechen in der Vergangenheit und in unserer Zeit begangen haben. An die Stelle des sonst so komplexen und (für die meisten von uns) unverständlichen juristischen Diskurses tritt hier eine überraschend klare Sprache ohne jeden Fachjargon. Diese Schlichtheit mindert weder die Abscheulichkeit der Tat noch täuscht sie über die Schwere des Verbrechens hinweg. Im Gegenteil: Das Ergebnis ist eine klare Beschreibung einer abscheulichen Politik, über die stillschweigend hinwegzusehen die internationale Gemeinschaft sich heutzutage weigert.
Die allgemeine Definition, worin ethnische Säuberung besteht, trifft fast wörtlich auf den Fall Palästina zu. So gesehen, stellen sich die Ereignisse von 1948 als unkompliziertes, aber deshalb durchaus nicht simplifiziertes oder zweitrangiges Kapitel in der Vertreibungsgeschichte Palästinas dar. Der Blick durch das Prismenglas der ethnischen Säuberung ermöglicht es ohne weiteres, den Deckmantel der Komplexität zu durchdringen, den israelische Diplomaten fast instinktiv ausbreiten und hinter dem israelische Akademiker sich regelmäßig verstecken, wenn sie Kritik von außen am Zionismus oder am jüdischen Staat wegen seiner Politik und seines Verhaltens abwehren. In meinem Land sagen sie: »Ausländer begreifen diese komplizierte Geschichte nicht und können sie auch nicht begreifen«, deshalb brauche man gar nicht erst zu versuchen, sie ihnen zu erklären. Wir sollten dem Ausland auch nicht erlauben, sich an Lösungsversuchen des Konflikts zu beteiligen – es sei denn, es akzeptiere den israelischen Standpunkt. Alles, was das Ausland tun könne, sei (wie die jeweiligen israelischen Regierungen der Welt seit Jahren erklärt haben), »uns« – die Israelis, als Repräsentanten der »zivilisierten« und »rationalen« Seite in diesem Konflikt – eine gerechte Lösung für »uns selbst« suchen zu lassen und für die andere Seite, die Palästinenser, die schließlich der Inbegriff der »unzivilisierten« und »emotionalen« arabischen Welt seien, zu der Palästina gehört. In dem Moment, als die Vereinigten Staaten bereit waren, diese sich selbst zurechtgebogene Herangehensweise zu übernehmen und die ihr zugrunde liegende Arroganz zu unterstützen, hatten wir einen »Friedensprozess«, der nirgendwohin führte und führen konnte, weil er den Kern des Problems völlig außer Acht ließ.
Aber die Geschichte der Ereignisse von 1948 ist durchaus nicht kompliziert. Daher richtet sich dieses Buch gleichermaßen an Leser, die sich zum ersten Mal mit diesem Thema befassen, wie an solche, die sich seit vielen Jahren und aus unterschiedlichen Gründen mit der Palästinafrage und dem Versuch, uns einer Lösung näher zu bringen, beschäftigt haben. Es ist die einfache, aber entsetzliche Geschichte der ethnischen Säuberung Palästinas, eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit, das Israel leugnen und die Welt vergessen machen wollte. Es ist unsere Pflicht, es aus der Vergessenheit zu holen, und zwar nicht nur als längst überfällige historiographische Rekonstruktion oder professionelle Aufgabe; meiner Ansicht nach ist es eine moralische Entscheidung, der allererste Schritt, den wir tun müssen, wenn wir wollen, dass Versöhnung jemals eine Chance haben und der Frieden in den zerrissenen Ländern Palästina und Israel Fuß fassen sollen.
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Grüße
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Ich bin und zugleich nicht.