Die Erscheinung des Logos – oder: Wie kommt die Weisheit der Welt in unser Denken?

Falkenauge, Freitag, 06.01.2023, 12:01 (vor 447 Tagen)3065 Views

Zum heutigen Epiphanias-Tag sei noch etwas Nachdenkliches eingetreut:

"Das Glück deines Lebens hängt von
der Beschaffenheit deiner Gedanken ab."

(Marc Aurel 121-180)

Den ganzen Tag gebrauchen wir unser Denken, denn es konstituiert wesentlich unser Bewusstsein. Doch kennen wir es eigentlich? Im gewöhnlichen Bewusstsein erleben wir unser Denken selbst gar nicht, sondern immer nur durch das Denken das, was gedacht wird. Wir sind den Inhalten des Denkens hingegeben, der Prozess des Denkens selbst bleibt dagegen unbemerkt im Hintergrund. Wie kommen die Inhalte der Welt in unser Denken herein, und wie können sie allen Menschen gemeinsam sein? Die Fragen sind nicht müßig. Ihnen nachzugehen, eröffnet ungeahnte Perspektiven der Welt- und Selbsterkenntnis. (Langsam zu lesen:)

Das Erkennen

Wahrnehmen und Denken sind die beiden Elemente unserer Erkenntnis. Was eine Wahrnehmung ihrem Wesen nach ist, kann uns nur im Denken als Begriff oder Idee aufgehen, die wir mit der Wahrnehmung verbinden. Das innere Wesen der Dinge erscheint uns als Inhalt des Gedankens, die äußere Erscheinung als Wahrnehmung.

Auf welche Rätselfrage wir auch immer Antwort suchen, wir suchen sie in unserem Denken; und wir geben uns mit einer Antwort nur zufrieden, wenn sie unserem Denken einleuchtet. Alle Sicherheit der Erkenntnis ist im Lichte unseres Denkens begründet.
Selbst wenn man in kurzschlüssiger Resignation dem Denken letztlich die Möglichkeit absprechen wollte, zu gültigen, wahren Aussagen zu kommen, kann dieses Urteil auch wieder nur durch das Denken geschehen – wobei unbemerkt doch die Kraft des Denkens, zu gültigen Aussagen zu kommen, vorausgesetzt wird. –
Wir können aus dem Denken nicht heraus. Es ist das Lebenselement unseres Ich, der geheimnisvolle Quell unseres Bewusstseins, in dem sowohl das Ich zu sich selbst erwacht, als auch alle Erscheinungen der Welt sich ihrem innersten Wesen nach aussprechen können.

Dabei kommen natürlich mehr oder weniger viele Irrtümer vor. Aber der Irrtum lebt davon, dass es die Wahrheit gibt; er setzt sie begrifflich voraus. Ja er hüllt sich gerade in ihren Mantel, gibt sich als die Wahrheit aus, um unentdeckt zu bleiben. Über beide kann keine andere Instanz als das Denken entscheiden. Sowie auch nur einmal das Ergebnis eines Erkenntnisvorganges als Irrtum durchschaut wird, hat damit das Denken seine Macht als Wahrheitsinstanz bewiesen. Und wir empfinden die Aufgabe, es zu immer größerer Objektivität und Klarheit auszubilden.

In unserem Denken sind wir mit der die Dinge und Wesen der Welt bildenden Weisheit verbunden, auch wenn wir sie nicht als solche verstehen. Wir müssen unser Denken selbst in Bewegung setzen, aber die Inhalte unserer Gedanken, unserer Begriffe und Ideen, haben ihren Ursprung nicht in uns, sondern in der die Welt durchflutenden und sie konstituierenden Weisheit; und von der Aktivität unseres Denkens hängt es ab, wie tief wir in sie eindringen und wieviel wir von ihr erfassen können.

Die Weisheit in der Welt

Wir beobachten in der uns umgebenden mineralischen, pflanzlichen, tierischen und menschlichen Welt ein unaufhörliches Entstehen und Vergehen. Nichts hat dauerhafte irdische Existenz. Wie aus einem unsichtbaren Hintergrund treten – in stark unterschiedlichem Zeitverlauf – ständig Gestaltbildungen in die Erscheinung, entfalten sich, erreichen einen Höhepunkt und lösen sich mehr oder weniger langsam wieder auf, wenn sich die Kräfte, die in ihnen gestaltend wirken, in die Verborgenheit zurückziehen. Alles Irdische unterliegt dem Gesetz von Entstehen und Vergehen, Geburt und Tod.

Wenn man nicht in dem unwissenschaftlichen, gedankenlosen Aberglauben gefangen ist, dass die Materie eben „irgendwie“ aus sich heraus so unterschiedliche Dinge aufbaue, muss man sich fragen:
Wo haben die Kräfte ihren Ursprung, die verschiedene indifferente Stoffe aus der physischen Umgebung zusammenziehen und zur Schönheit einer mineralischen Kristallbildung, zum Organismus einer duftenden Rose, eines geschmeidigen Leoparden und der menschlichen Gestalt mit ihrem intelligenten, komplizierten Zusammenspiel aller Teile und Funktionen aufrufen?

Von einem im Walde gefundenen Motor nehmen wir vernünftigerweise nicht an, dass sich seine Teile „irgendwie“ zufällig so zusammengefügt haben, sondern wir können nur denken – wenn wir denken – dass die Konstruktionsidee des Motors von einem intelligenten Geist erdacht und in die materielle Realität hineingestaltet worden sein muss. So kann unser Denken auch bei den Naturerscheinungen sinnvollerweise nicht von zufälligen Zusammenballungen ausgehen, sondern muss sie auf einen oder verschiedene intelligente Geister zurückführen, aus deren Weisheit der ideelle Bauplan gebildet und materiell ausgestaltet worden ist. Dass sie mir, wie auch der Motor-Erbauer, nicht sichtbar sind, ist kein Beweis dafür, dass sie nicht existieren.

Die Weltvernunft (der Logos) in uns

Die Frage nach dem Ursprung der in der Welt wirkenden schöpferischen Weisheit und ihrem Zusammenhang mit den im Denken des Menschen auftretenden Ideen hat bereits intensiv die frühen griechischen Philosophen beschäftigt. Der Grieche Heraklit, der etwa von 550 – 480 vor Christus an der kleinasiatischen Küste in Ephesus lebte, prägte als erster für das zentrale Göttliche, das als erschaffende Geistes- und Weisheitskraft allem Gewordenen und allem menschlichen Denken zugrunde liegt, den Ausdruck „Logos“.

Der Logos ist das „Weltenwort“, auf dessen Flügeln die schöpferischen Weltgedanken gleichsam aus göttlichem Munde hinausströmen und sich gestaltend in alle irdischen Erscheinungen verdichten. Der Logos ist ewig, vor aller Schöpfung vorhanden, er ist die Weltenvernunft, die alles Sein durchtönt und in die Vielfalt der irdischen Erscheinungen hineinverstummt, sich die unterschiedlichsten Leiber bildend, durch die es in der Welt wirken kann. Je höher das Geschaffene organisiert ist, desto mehr beginnt der Logos aus seiner Hülle wieder hervorzutreten: in den Pflanzen offenbart sich zum mineralisch Toten das Leben, in den Tieren tritt zu beidem das Beseelte hinzu.

Im menschlichen Geiste erscheint der Geist des Logos selbst, kommt in seinem Bewusstsein erkennend zu sich selbst und tönt wieder als Wort hervor. Der Mensch als das höchste Logos-Geschöpf auf Erden ist der reinste Ausdruck, der Sohn des Logos. Ist der Logos durch das materielle Kleid aller Dinge und Wesen mehr oder weniger verhüllt, so tritt er im Schrein der Seele des Menschen, in seiner Vernunft, seiner „Logik“ rein und leuchtend in Erscheinung. In unserem Geiste lebt der Logos als in seinem ureigenen Medium auf. Zwischen den Weltgedanken des Logos und den reinen Gedanken des Menschen ist in ihren Tiefen gar keine Trennung. Das Leben in den reinen Gedanken ist zugleich das Leben in Gott.

Doch die Menschen begreifen das nicht, sagte Heraklit, sie bemerken nicht den Zusammenhang ihres eigenen Denkens, ihrer eigenen Logik, mit dem Logos:
Zu diesem Logos, der ewig ist, finden die Menschen keine Beziehung, weder bevor, noch nachdem sie von ihm hörten. Da doch alles gemäß dieses Logos entstanden ist, gleichen sie Unerfahrenen, auch wenn sie von diesen seinen Worten und Werken erfahren haben.“ 1

Die Unkenntnis des Menschen über diesen Zusammenhang ist Ursache aller Verwirrung und Chaotisierung auf Erden. „Von dem Logos, dem Lenker des Alls, mit dem die Menschen am engsten und ständig vereint sind, sondern sie sich ab, und fremd erscheinen ihnen die Dinge, auf die sie jeden Tag stoßen.“ 2 Der Logos, die Weltenvernunft, ragt in ihre Seelen herein, kann aber dort nur voll wirksam werden, wenn er als Quelle der eigenen Vernunft erkannt und ergriffen wird.

Ob die Menschen die Wahrheit erkennen können, hängt davon ab, ob sie ihr Bewusstsein mit dem Logos der Welt verbinden. Er ragt in alle als die gemeinsame Vernunft herein, kann aber nicht ohne menschliches Zutun wirksam werden. Nur im Schein der inneren Vernunftstrahlen, die von seinem Licht in ihr Denken hereinströmen, sind sie nicht von ihm getrennt. Folglich sind sie dann auch nicht von den Dingen in ihrer Umgebung getrennt, denn dann leuchtet deren inneres Wesen in der menschlichen Seele auf. Die Welt ist Logos-geordnet, und ohne die bewusste innere Verbindung mit dem Logos in ihrem Denken haben die Menschen nicht den Schlüssel zur Welt. Sie fallen in die Isolierung und Willkür eigen-süchtigen Denkens, und jeder meint, er habe eine eigene Vernunft: „Obwohl der Logos das Gemeinsame ist, leben die meisten, als ob sie eine private Vernunft hätten.“ 3

Dabei wäre unter den Menschen überhaupt keine Verständigung möglich, wenn sie sich nicht in einer gemeinsamen Vernunft (dem Logos) treffen könnten, was im diá-logos, im Dialog, sprachlich zum Ausdruck kommt. Geschieht die Verbindung mit der gemeinsamen Vernunft teilweise oder vollständig nicht, emanzipiert sich die eigene Verstandestätigkeit insoweit vom gemeinsamen Vernunftgrunde, und jeder behauptet seinen persönlichen „Standpunkt“. Es findet eine Atomisierung des geistigen Lebens statt, die notwendig mit Skepsis und Unglauben gegenüber einer objektiven Wahrheit verbunden ist.

Heraklit war ein Priester der Mysterienstätte von Ephesus, einer der bedeutendsten in ganz Griechenland, deren Tempel einer Gottheit geweiht war, in der die Summe aller göttlichen Schöpfer- und Weisheitskräfte verehrt wurde, die lebensspendend den Kosmos durchweben und die zugleich die Erzeuger und Ernährer der menschlichen Gedanken- und Sprachkräfte sind. Ihr als Artemis, lat. Diana, (u.a. Göttin der Jagd) überlieferter Name scheint gegenüber der ursprünglichen Bedeutung profaniert worden zu sein.

Im innersten Heiligtum des Tempels stand eine Statue der Göttin, die mit einer Vielzahl von Brüsten ausgestattet war. Wie für das kleine Kind aus der Brust der Mutter die ernährende Milch des Lebens quillt, so entspringen aus den viel zahlreicheren Brüsten der kosmischen Mutter, der nährenden Mutter, der „Alma Mater“, die schöpferischen Ströme allen Lebens, die sich nach außen in der Gestaltung der Dinge und Wesen, im Menschen selbst als Denken und Sprechen offenbaren.

Der Name „Alma Mater“ hat sich noch bis heute als Bild für die Universität erhalten, um damit auf den Ursprung der ernährenden kosmischen Ströme für das Wachsen des Geistes im Menschen hinzudeuten.

Vom Ursprung des Ich

Doch wenn Vernunft und Sprache des Menschen ihren Ursprung in der Weltenvernunft und im Weltenwort des Logos haben, bleibt die Frage offen, wie es sich mit dem geistigen Wesen des Menschen selbst, seinem „Ich“ verhält, das im Denken lebt und sich seiner bedient. Dem wendete sich zentral die stoische Philosophie zu, die in der Zeit von 330 vor Chr. bis ca. 200 nach Chr. auch in Rom stark verbreitet war und die Logoslehre weiter ausgebaut hat. Der Stoiker Marc Aurel (121 – 180 n. Chr.) wurde gar römischer Kaiser.

Die Stoiker unterschieden grundsätzlich die Beziehung des Logos zu den Naturwesen einerseits und zur Seele des Menschen andererseits. In den Naturwesen, wozu auch der Leib des Menschen gehört, wirken die samenhaften Logoi, die „Logoi spermatikoi“. Sie werden durch das göttliche Wort in die Welt hinausgesandt, verbleiben aber gewissermaßen in seinem kosmischen Kraftfeld; Stein, Pflanze und Tier werden also in ihrem Werden von außen gelenkt und bestimmt. Der Geistkeim des Menschen dagegen, sein Ich, wird vom kosmischen Logos abgespalten, aus seinem Kraftfeld herausgelöst und in die Selbständigkeit entlassen. Es lebt als abgetrennte Logos-Monade im Menschen-Innern, und seine Entfaltung zum Welt- und Selbstbewusstsein erfolgt nicht zwangsläufig. Das Menschen-Ich ist ein Sohn des Logos, es wird nicht von außen bestimmt, seine Entfaltung muss aus dem eigenen Inneren kommen, insofern ja in ihm die volle Logos-Instanz potenziell anwesend ist.

Der Logos im Menschen ist gleichsam sein höherer Genius; er soll die vielfältigen Regungen der Seele, die Triebe, Begierden und Leidenschaften beherrschen und sich als innere Ordnungs- und Führungsinstanz durchsetzen. So schrieb Marc Aurel: „Trachte einzig danach, den Genius rein zu erhalten, den der Logos dir als Spross seines eigenen Wesens zum Führer gegeben hat! Der Geist, der in dir wohnt – der Gott in dir – sei dein Führer.“
Das schließt in sich, dass der Mensch schließlich keiner äußeren Gesetze und Gebote mehr bedarf, die vom Logos außer ihm genommen sind, sondern nur noch der Stimme des Logos in seinem eigenen Innern folgt. Der Mensch ist also ein zur Freiheit veranlagtes Wesen. Der Logos vermittelt dem Menschen ein Bild dessen, was er einmal aus sich selbst heraus werden soll.

Durch den Logos in ihm ist der Mensch mit den über ihm stehenden göttlichen Wesen verwandt. Der Stoiker Seneca schrieb daher: „Der Logos ist den Göttern und Menschen gemeinsam. Bei den Göttern ist er vollkommen, bei den Menschen vervollkommnungsfähig.“ Und in einem Fragment des Areios Didymos heißt es: „Zwischen den Göttern und den Menschen herrscht Gemeinsamkeit durch den Anteil, den sie am Logos haben, der auch das Gesetz des Werdens ist.“ Das macht die eigentliche Würde des Menschen aus, so dass Epiktet schrieb: „Der Mensch erlangt die Würde eines Tischgenossen der Götter und nicht nur eines Tischgenossen, sondern sogar eines Mitregenten.“ Und Seneca brachte es in die Formulierung: „Der Logos-Durchdrungene ist Genosse der Götter, nicht ein untertänig Flehender.“ 4

In der heutigen allgemeinen Logos-Ferne klingt das alles irreal und phantastisch, und man kann mit Recht auf die Verfassung der meisten Trieb- und Gier-gesteuerten Menschen hinweisen, die alles andere als Logos-erfüllte „Genossen der Götter“, also gleichsam höhere edle Wesen seien. Aber das zeigt nur, wie weit die Menschheit von der inneren Verbindung mit der Weltenvernunft entfernt ist. Dies war schon in hohem Maße vor zweitausend Jahren der Fall, weshalb der Logos offensichtlich Mensch wurde, um der Menschheit neue Kräfte zu bringen.

Die Menschwerdung des Logos

Bereits Philo von Alexandria, der etwa von 25 v. Chr. bis 50 n. Chr. lebte, bezeichnete den Logos als eine Mittlergestalt zwischen der höchsten Vater-Gottheit und den Menschen und sprach oft geradezu formelhaft wiederholend davon, dass der Logos allmählich vom Himmel auf die Erde herabsteige. Doch meinte er dies im geistigen Sinne. Eine irdische Inkarnation des Logos in einen menschlichen Leib konnte er sich nicht vorstellen.

Philo stammte aus einem jüdischen Priestergeschlecht und war zeitlebens ein strenggläubiger Israelit. Aber seine Bildung war umfassend. Neben den Büchern des Alten Testamentes kannte er die griechische Dichtung und Philosophie wie ein gebildeter Grieche. Und mit den Anschauungen der Logos-Philosophen fühlte er sich tief verbunden. Heraklit und Zenon, der Begründer der Stoa, waren ihm „göttliche Männer“, und Platon, dessen Ideenlehre er in seine Anschauungen einbaute, war ihm „ein Heiligster“. Mit dem Christentum ist Philo jedoch nicht in Berührung gekommen.

Es hat etwas Tragisches, dass er mit einem anderen, etwa zwanzig Jahre jüngeren Juden in Jerusalem nicht in Zusammenhang gekommen ist, der ebenfalls hochgebildet und mit der Logoslehre tief verbunden war: Johannes, der spätere Evangelist. Denn dieser konnte in dem in Palästina herumwandelnden und lehrenden Jesus von Nazareth den tatsächlich inkarnierten Logos erkennen und wurde sein bedeutendster Jünger. Im hohen Alter von fast hundert Jahren zog er sich bewusst nach Ephesus, den Ursprungsort der Logoslehre zurück, um hier auf sein langes Leben Rückschau zu halten und aus dem, was er erlebt und erkannt hatte, die weltgeschichtliche Summe zu ziehen.

Im Prolog zu seinem Evangelium blickte er zurück auf den Zeitpunkt der Schöpfung der Welt, da bei dem höchsten Gott nur erst der einzig geborene göttliche Sohn, der Logos, das Weltenwort, vorhanden war; wie alles durch ihn entstanden, alles Leben aus ihm erflossen ist und alles Erkenntnislicht im Innern des Menschen von ihm herstrahlt, die Dunkelheit ihres Erdendaseins erleuchtend. Doch wie schon Heraklit so konstatierte auch Johannes, dass die Menschen abgetrennt von ihm in Finsternis leben und das Licht nicht begreifen. Und Johannes versichert als Augenzeuge und Jünger Jesu Christi: „Der Logos wurde Erdenmensch und hat unter uns gewohnt, und wir haben seine Lehre gehört.“

Es ist tief ergreifend, wie an vielen Stellen die Lehre Christi mit den Worten der Logos-Philosophen übereinstimmt. Wenn Areios Didymos z. B. schrieb: „Zwischen den Göttern und den Menschen herrscht Gemeinsamkeit durch den Anteil, den sie am Logos haben, der auch das Gesetz des Werdens ist“, so brachte Christus dies in das gewaltige Bild vom Weinstock, wie es Johannes in Kap. 15, 1 f. berichtet:
„Ich bin der wahre Weinstock, und mein Vater ist der Weingärtner. Jede Rebe an mir, die keine Frucht trägt, nimmt er weg, und jede die Frucht trägt, reinigt er, damit sie mehr Frucht trage. Ihr seid bereits gereinigt durch die Kraft des Wortes (des Logos), das ich zu euch sprach. Wohnet in mir (in meinem Logos), so will ich in euch wohnen. Wie die Rebe aus sich selbst heraus keine Frucht tragen kann, sie sei denn durchströmt vom Leben des Weinstocks, so könnt auch ihr es nicht, ihr habet denn die Dauer gefunden in mir. Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt viel Frucht. Ohne mich aber könnt ihr nichts vollbringen. Wer nicht wohnt in mir, wird herausgerissen wie die Rebe und muss verdorren.“

Wenn Seneca feststellte: „Der Logos-Durchdrungene ist Genosse der Götter, nicht ein untertänig Flehender“, so sagt Christus in Joh. Kap. 15, 13 f.:
„Eine größere Liebe kann niemand haben als die, sein Leben hinzugeben für seine Freunde. Ihr seid meine Freunde, wenn ihr dem Auftrag folgt, den ich euch gebe. Ich kann euch nicht mehr Knechte nennen, denn der Knecht weiß nicht, was sein Herr tut. Ich nenne euch Freunde, weil ich euch alles habe erkennen lassen, was mir durch meinen Vater kundgeworden ist.“

Und wenn Marc Aurel sagte: „Der Geist eines jeden (also die Logos-Monade in ihm) ist ein Gott und ein Ausfluss der Gottheit“, so erinnert Christus in Joh. 10, 34 seine Feinde an Psalm 82, 6: „Steht nicht geschrieben in eurem Gesetz: Ich habe gesagt, ihr seid Götter?“ Und bei dem Satz des Epiktet: „Der Mensch erlangt die Würde eines Tischgenossen der Götter und nicht nur eines Tischgenossen, sondern sogar eines Mitregenten“, steigt unwillkürlich das große Bild auf, da Christus mit seinen Freunden als den Repräsentanten der Menschheit beim Abendmahl zu Tische saß.

Das göttliche Dasein im reinen Denken

Die objektive Realität der Begriffe und Ideen und ihren Zusammenhang mit der Gottheit, aus der sie letztlich in das eigene Denken fließen, haben noch die Philosophen des deutschen Idealismus stark empfunden. Insbesondere Johann Gottlieb Fichte brachte dies deutlich zum Ausdruck in seinen Vorlesungen „Die Anweisung zum seligen Leben“, in denen zugleich eine Interpretation des Johannes-Evangeliums enthalten ist. Er ging davon aus, dass im Grunde in jedem die Sehnsucht nach dem Ewigen lebe. „Unaufhörlich umgibt uns das Ewige und bietet sich uns dar, und wir haben nichts weiter zu tun, als dasselbe zu ergreifen.“ 5

Alle Glückseligkeit ist damit verbunden. Aber in dem, was den Sinnen als Endliches unmittelbar entgegenkommt, ist es letztlich nicht zu finden, da bleibt der Mensch ebenso leer wie zuvor.
„Das Element, der Äther, - die substanzielle Form … des wahrhaftigen Lebens ist der Gedanke. … Das Ewige … kann lediglich und allein durch den Gedanken ergriffen werden und ist, als solches, auf keine andere Weise uns zugänglich. … Und so besteht das wahrhaftige Leben und seine Seligkeit im Gedanken, d.h. in einer gewissen bestimmten Ansicht unserer selber und der Welt, als hervorgegangen aus dem inneren und in sich verborgenen göttlichen Wesen. … Im Geiste, in der in sich selber gegründeten Lebendigkeit des Gedankens, ruhet das Leben; denn es ist außer dem Geiste gar nichts wahrhaftig da. Wahrhaftig leben, heißt wahrhaftig denken und die Wahrheit erkennen.“ 6

Damit wird das Denken zugleich zum inneren Wahrnehmungsorgan für die Gottheit. (Ich weiß und erkenne), „dass man nur durch das eigentliche, reine und wahre Denken und schlechthin durch kein anderes Organ die Gottheit erkennen und das aus ihr fließende selige Leben ergreifen und an sich bringen könne. (…) Darin besteht die Religion, dass man in seiner eigenen Person, und nicht in einer fremden, mit seinem eigenen geistigen Auge, und nicht durch ein fremdes, Gott unmittelbar anschaue, habe und besitze. Dies aber ist nur durch das reine und selbständige Denken möglich. … Das reine Denken ist selbst das göttliche Dasein, und umgekehrt: das göttliche Dasein in seiner Unmittelbarkeit ist nichts anderes als das reine Denken.“ 7

Das Erfassen des reinen Denkens

Nun werden sich Leser mit Recht sagen: Aber ich erlebe kein göttliches Dasein in meinem Denken. - Im gewöhnlichen Alltagsbewusstsein bleibt uns das Denken als Prozess auch völlig unbewusst, nur das jeweilige Ergebnis des Denkprozesses, das Gedachte, also Begriffe und Ideen fallen ins Bewusstsein. Was wir im gewöhnlichen Sprachgebrauch das Denken nennen, ist eigentlich das Erscheinen des Gedachten. Wir sind zunächst nicht fähig, die Gegenwart des denkenden Bildeprozesses der Begriffe zu erleben, der uns vorbewusst bleibt. Wir haben es nur mit den sofort in die Vergangenheit fallenden fertigen Begriffen zu tun. Und diese sind nicht mehr lebendig, sondern schattenhaft, erstarrt, gewissermaßen abgestorben. Daher können sie auch nur Totes begreifen.

Platos Höhlengleichnis ist dafür ein treffendes Bild („Staat“, 7. Buch): Wir sitzen gefesselt in einer Höhle und können nur vor uns auf die hintere Wand blicken. Hinter uns brennt ein Feuer, das die Wand vor uns erleuchtet. Und zwischen unserem Rücken und dem Feuer tragen Wesen allerlei Dinge vorüber, deren Schatten vor uns auf die Wand geworfen werden. Nur diese Schatten fallen in unser Bewusstsein.
Dies ist die Situation unseres gewöhnlichen schattenhaften Denkens. Um das lebendige, wesenhafte Denken zu erfassen und zu erleben, müssen wir uns von den Fesseln befreien, um uns sozusagen umwenden zu können. Dazu ist eine höhere Willensanstrengung notwendig, als sie im gewöhnlichen Denken geschieht.

Wenn man sich über längere Zeit auf einen höheren Gedanken, der nicht durch äußere Eindrücke hervorgerufen ist, konzentriert und auf ihm immer wieder in meditativer Hingabe willentlich ruht, durchdringt man allmählich die Fläche des Gedankens und beginnt die dahinter verlaufende Tätigkeit des Denkens selbst zu erleben. „Und die Gedanken erfüllen sich mit einem ihnen eigentümlichen Leben, das der Denkende verbunden fühlt mit seinem eigenen Seelenwesen.“ Man erlebt also, wie die Begriffe und Ideen nicht mehr fest, schattenhaft sind, sondern inneres Leben haben, wie ein Gedanke selbst den nächsten Gedanken sucht und sich ein zusammenhängender Ideenorganismus bildet, von dem man den Eindruck hat: Nicht ich denke dies, sondern es denkt; das Weltendenken, der Logos, denkt in mir.8

Wer so erlebend in den Prozess des Denkens als in ein von ihm unabhängiges, objektives geistiges Geschehen eintaucht, „lebt während der Beobachtung unmittelbar in einem geistigen, sich selbst tragenden Wesensweben darinnen.“ 9 Es ist eine Fülle des Erlebens, die auch mit dem gewöhnlichen Fühlen und Wollen nicht verglichen werden kann. Diesen gegenüber ist das gewöhnliche Denken kalt und scheint das Seelenleben auszutrocknen. „Doch dies ist eben nur der stark sich geltend machende Schatten einer lichtdurchwobenen, warm in die Welterscheinungen untertauchenden Wirklichkeit. Dieses Untertauchen geschieht in einer in der Denkbetätigung selbst dahinfließenden Kraft, welche Kraft der Liebe in geistiger Art ist.“ 10 Es ist die willensdurchdrungene, weisheitsvolle Liebe des Christus-Logos.

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Quelle mit Anmerkungen:

https://fassadenkratzer.wordpress.com/2019/01/04/die-erscheinung-des-logos-oder-wie-kom...


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