Die Behütung des Kindes

Falkenauge, Samstag, 24.12.2022, 10:18 (vor 488 Tagen)3516 Views

Heute etwas zu den inneren positiven oder negativen Vorgängen, die den äußeren zugrunde liegen:

Es soll hier die tiefe Erzählung Edzard Schapers aus dem finnisch-sowjetischen Krieg 1941 „Das Christkind aus den großen Wäldern“ wieder aufgegriffen werden, auf die an Weihnachten 2020 in verdichtender Nacherzählung eingegangen worden ist. Sie konnte aber nur bis zur gemeinsamen Weihnachtsfeier der finnischen Patrouille mit dem Kinde geführt werden, das sie aus einem verlassenen russischen Dorf gerettet hatten und mit dem sie unter Beschuss zuletzt glücklich hinter die eigene Linie gelangt waren. Doch damit war die Erzählung noch nicht zu Ende. Auch nach seiner Rettung galt die Sorge der sieben Soldaten, insbesondere Jänttinens, der es durch alle Gefahren getragen hatte, weiter dem Wohl des Kindes, das sie nicht aus den Augen verlieren wollten.

Auf ihre Kameraden hatte die Patrouille, obwohl sie aus mehreren Kompanien ausgewählt und zusammengestellt worden war, den Eindruck einer versprengten Familie gemacht, in der jeder von ihnen zu dem Kinde in einer geheimnisvollen Beziehung stand, die ihnen allen als etwas Unerklärliches anhing, als ein Hauch des Wunderbaren, des Friedens und der Wehmut. Es mochte dunkel die Ahnung in ihnen aufgestiegen sein, ob sie das Kind nicht daran gemahne, dass in jedem von ihnen, noch klein und schwach wie ein Kind, ein edleres, höheres Wesen wohne, das darauf warte, in ihnen selbst geboren und vor allen Kräften, die es vernichten wollen, gerettet und beschützt zu werden.

Die sieben Männer kamen nach dem Heiligen Abend überein, dass man das Kind, das sie ja an der Front nicht behalten konnten, durch das nächste Lotta-Kommando oder einen Trupp jener Frauen, welche die Soldatenheime im rückwärtigen Frontgebiet betreuten, in ein Heim für elternlose Kinder schicken müsse. Dabei bestand Jänttinen mit Beharrlichkeit darauf, dass er das Kind keinesfalls einfach ins Ungewisse zu geben gewillt sei, er wolle genauen Bescheid, wie man mit ihm verfahre, wohin es komme und wer für sein Fortkommen sorgen würde.

Daraus entstand bei allen der Plan, so etwas wie eine Patenschaft an Juhani zu übernehmen, ihn wirklich nach Christenart Juhani taufen zu lassen und für seinen Unterhalt etwas auszuwerfen. Damit war auch Jänttinen zufriedengestellt.*

Schon am folgenden Tag machten sich alle sieben in die Etappe auf, um Juhani den Lottas der Feldküche oder der Telefonzentrale zu übergeben. Doch es bedurfte noch vieler Gespräche mit noch weiter im Hinterland stationierten Einheiten, Feldlazaretten und Amtsstellen, bis Jänttinen, der schon geschworen hatte, er nehme das Kind einfach wieder mit, soweit zufrieden gestellt war von den Auskünften und Versprechungen, dass er das Bündel einer älteren Lotta überließ, die ihm, wie um ihn zu trösten, anvertraute, Juhani sei bei ihr in gewohnten Händen, sie habe selbst drei Kinder geboren und erzogen, soviel wie er verstehe sie auch. Und doch stand Jänttinen in erschütternder Zaghaftigkeit da, als er das Bündel aus seinen Händen ließ. Er ließ die Arme hängen, als seien sie fortan zu nichts mehr nütze, betrachtete schweigend seinen Juhani in den Armen der Fremden, drehte sich dann auf dem Fleck um und ging.

Als die anderen nachkamen, las ihm Leutnant Heiskanen draußen den Namen des Heims vor, in das Juhani vermutlich gebracht werden würde, doch Jänttinen sagte kein Wort, finster schweigend ging er auf dem ganzen Rückweg vor ihnen her. Sie sahen ihm seine störrische Unkameradschaftlichkeit nach, milder gestimmt als alle anderen der Leutnant, der wusste, dass seit den späten Abendstunden des vergangenen Tages im Bataillonsstab ein Telegramm lag, das Jänttinen mit sofortigem Urlaub für zwei Wochen in die Heimat rief. -

Der Bataillons-Adjutant hatte nicht einmal ihm, Heiskanen, sagen wollen, um was es sich bei diesem Abruf handelte. Es müsse sich da, hatte er ausweichend erklärt, wohl um Familienangelegenheiten handeln, die im Zusammenhang mit Luftangriffen auf Städte und Dörfer in der Heimat ständen. (…) Das Telegramm sei gekommen, während Jänttinen auf Patrouille gewesen war, den Heiligen Abend
aber habe man ihm gestern nach der Rückkehr nicht zerstören wollen und deshalb beschlossen, bis heute zu warten. Auch seien, wie ihm, Heiskanen, wohl aufgefallen sei, am Heiligen Abend keine Zeitungen ausgeteilt worden.

Schon in einiger Entfernung zu ihrem Zeltquartier sah Heiskanen ein Blatt Papier am Eingang angebracht. Und er wusste, was darauf stand, ließ den anderen den Vortritt und betrachtete Jänttinens Rücken, als der Riese vor dem Papier stand und mit lautlosen Lippenbewegungen las: „Korporal Jänttinen sofort zum Kampaniestab kommen!“

Jänttinen erstarrte, machte zögernd ein paar Schritte und strebte dann in kaum verhehlter Eile zum Stab, während Heiskanen den anderen kurz erzählte, was er wusste und dass Jänttinen schwerlich aus einem freudigen Anlass zum Kompaniestab befohlen worden sei und dort Heimaturlaub erhalte.

Bald hörten sie Jänttinen mit holprigen, halb springenden Schritten zurückkommen und empfingen ihn mit betretenem Schweigen. Jänttinen selbst schien das nicht einmal zu bemerken. Die Nachricht, die er empfangen, hatte ihn derart verstört gemacht, dass er seiner Umgebung keinerlei Beachtung schenkte. Er sagte in abgerissenen Sätzen, dass er gleich aufbrechen und nach Hause fahren müsse, und schien gar nicht zu vermissen, dass sich bei dieser Nachricht nicht die freudige Aufregung einstellte, die sonst jeden Urlauber umgab und eine Sturzflut von Anliegen an ihn, was er alles mitbesorgen könne, im Gefolge hatte.

Er kramte ein paar Sachen zusammen und stürzte mit einem zerstreuten Gruß in sein altes, richtiges Quartier, wo er seine übrigen Habseligkeiten verwahrte. Der Abschied war dermaßen ungewöhnlich, dass sie alle aufstanden, vors Zelt hinausgingen und ihm wortlos nachblickten, aber da war er schon zwischen den Bäumen verschwunden. … Als sie später bei seiner Kompanie nach ihm forschten, hörten sie, dass er Urlaubsschein und Marschbefehl gleich beim Kompaniestab mitbekommen habe, nicht bis zum Abend auf eine Mitfahrgelegenheit habe warten wollen, sondern ungesäumt aufgebrochen sei. Er habe kaum etwas gesprochen. Mit aufgerissenen Augen, die Stirn von Schweißtropfen besät, habe er seinen Rucksack gepackt und sei beinahe grußlos auf Schneeschuhen losgefahren.
Am Abend kamen zum erstenmal Zeitungen, in denen ein feindlicher Luftangriff auf die kleine Stadt L. geschildert wurde mit der amtlichen Bekanntmachung über die Opfer unter der Zivilbevölkerung, darunter auch Jänttinens ganze Familie. Ein Volltreffer hatte das Vorstadthäuschen zerstört.

Jänttinens Weg in die Heimat

Jänttinen erfuhr die schreckliche Nachricht schon aus den ersten fettfleckigen Zeitungen, die ihm noch in Frontnähe während eines Wartehaltes in einer Soldatenkantine in die Hände kamen. Er saß da zwischen anderen Soldaten an einem mit Lachen von verschüttetem Kaffee befleckten Tisch, eingehüllt von Lautsprechermusik und lärmendem Stimmengewirr. Er las, den Kopf in beide Hände gestützt, und saß, auch nachdem er die Zeitung viermal nacheinander gelesen hatte, noch genauso da.

Der große Barackenraum brauste wie eine Turbinenhalle in seinen Ohren. Als er aufstand, schwankte er, und etliche von seinen Nachbarn flüsterten schon etwas davon, dass der da die alkoholfreie Frontzone wohl etwas verschmälert habe; doch als sie gewahrten, wie der Schwankende die Zeitung, die er gelesen, mit tränenüberströmtem Gesicht zusammenfaltete und in die Tasche steckte, schwiegen sie still. Der ganze Tisch war vor Entsetzen verstummt, als Jänttinen mit atemberaubender Langsamkeit seine Sachen zusammenpackte und grußlos nach draußen ins Dunkle verschwandt.
Er fuhr diese Nacht und den folgenden Tag, erst mit den ins rückwärtige Gebiet fahrenden Transportkolonnen, vom frühen Morgen an mit der Eisenbahn. Er hatte großes Glück, was die Verbindungen betraf, aber kein Glück freute ihn, denn er hatte, abermals und immer wieder die allmählich zerschlissene, in jeder Falte schon leere Zeitung lesend, sich ausgerechnet, dass er für alles
zu spät kommen würde.

Als er schließlich spät in der zweiten Nacht seine Heimatstadt erreichte, stand er eine Weile mit schlaflosen, brennenden Augen in der verdunkelten Straße vor den Resten seines Hauses. Schließlich legte er sein Gepäck hinter eine Schutthalde, dort, wo früher die Treppe in den Keller seines Hauses geführt hatte, und ging zum Friedhof. Es war auch hier viel Schnee gefallen, und das einzige Geräusch in der frostklaren Nacht waren seine langsamen knirschenden Schritte. Die Verdunkelung der stehen gebliebenen Häuser ersparte ihm jedes Wiedersehen.

Kein Windhauch war zu spüren, als er die lange Reihe der frischen, einheitlich mit kleinen, weißen Kreuzen gekennzeichneten Gräber abschritt, in denen die Opfer des Angriffs als ruhmlose Soldaten des größeren Heeres in der Heimat bestattet worden waren. … Er zündete seine Taschenlampe an, als er`s gar nicht mehr zu tun brauchte und schon wusste: hier! … aber bevor er sich in den Schnee niederfallen ließ, so, wie er manchen Kameraden an der Front von einem Schuss ins Herz getroffen hatte zusammenbrechen sehen, las er die Namen deutlich im Schein der Lampe und doch wieder so verschwommen, als stünden sie hinter einer unaufhörlich niederströmenden, in der Gleichförmigkeit wie erstarrten Breite fallenden Wassers…

Schon kaum drei Tage später war Jänttinen wieder auf dem Rückweg zur Front. Finster und schweigsam saß er in einem der schier endlosen, verdunkelten Züge, die allabendlich die Fracht lärmender Soldaten weiter und weiter nach Osten brachten. Er sprach mit niemandem und wehrte jeden Versuch, ihn zum Reden zu bringen, mit Schweigen ab.

Als er zwei Nächte und einen Tag unterwegs war, kam er in die Gegend, in der ihm die Namen jetzt wieder mehr sagten als zuvor und in der er sich mit einemmal wie zu Hause fühlte.
Bisweilen verschwand hier schon das Kreuz mit den drei Namen, das er sonst überall, wo nur Schnee lag, vor sich sah. Und als er einmal in der Etappe einen Friedhof sah – keinen Soldatenfriedhof, sondern einen für die Menschen, die einmal hier gewohnt hatten -, schloss er sogleich die Augen und war froh, dass das Lastauto schnell fuhr, mit dem er unterwegs war. Im übrigen aber ließ er sich Zeit, oder die Zeit ließ ihn in Frieden; ihn drängte kein naher Tag, an dem er sich zurückmelden musste. Schweigsam und allezeit abseits half er die Soldatenheime bevölkern, deren ihn jeden Tag ein anderes aufnahm. (…) Bisweilen hatte er das Gefühl, er wisse nicht mehr, woher er komme und wohin er wolle.
Doch ohne dass er es merkte, sog ihn jede Stunde, die er marschierend oder unter der Plane eines Lastwagens vorwärts kam, immer tiefer in jene Einöden hinein, in denen die inzwischen weit vorgeschobene Front jetzt verlief, und immer noch hatte er acht Tage Urlaub.

Als ihn in irgendeiner Kantine eine ältere Lotta wiedererkennend anblickte und nach seinem Sohn fragte, zog er sich zunächst in finsteres Schweigen zurück. Doch auf ihre nächste Frage, ob er denn nicht jener Korporal sei, der ihr vor kaum zwei Wochen ein Kind übergeben habe, das er auf einer Patrouille irgendwo weit hinter der Front gefunden hatte, schaute er sie groß an und nickte stumm. Ob er bei dem Kleinen gewesen sei, fragte sie weiter. Er schüttelte stumm den Kopf und wandte sich schon zum Gehen, als er doch wieder stehenblieb und leise zurückfragte, wo das Kind jetzt sei. -
Das Kind? Hätten sie es nicht Juhani genannt? – Juhani, der sei jetzt in einem Heim, das nur ein paar Kilometer entfernt von hier liege. Er solle sich nur an die Lagerleitung dort wenden und fragen. Als Juhani sei er hingebracht worden, Juhani und noch etwas, sie erinnere sich nicht mehr, wie er geheißen habe… „Kangasjärvi!“ flocht er ein. Ja, das könne wohl sein.

Dann stand er vor der Baracke und lauschte in das ferne Rollen der Front. Schließlich drängte er sich, als habe er es sich doch anders überlegt, durch die rauchend im Freien Stehenden zu den Wagenkolonnen, die nach vorne wollten, stieg auf und hockte schweigend auf der Fracht. In seinem eigentümlichen Schweigen war er, ohne es zu wollen, allen, die mit ihm fuhren, unheimlich geworden. Man war froh, als er absprang, um seine alte Kompanie zu suchen.

Doch als Jänttinen dem Dämmerdunkel unter der Plane entstieg, sich seinen Rucksack und die Schneeschuhe herunterlangte und einen Augenblick wie zwischen Schlaf und Wachen regungslos dastand, bis das schwankende, dunkle Gehäuse des Lastwagens weitergerollt war, strich er sich im nächsten Augenblick übers Gesicht, als müsse er ein Gespinst entfernen. Er blickte sich um. In dem grauenden Morgenlicht, das sich wie ein nüchternes Frösteln zwischen Himmel und Erde stahl, stand er vor dem Haus, in dem sie Juhani gefunden hatten! –

Erst meinte Jänttinen zu träumen. Er ging die Straße mit ihren zinngrauen blinkenden Fahrspuren weiter, kehrte mit einemmal um und ging zurück, über die Stelle hinaus, bei der er abgestiegen war. Dann betrachtete er das Haus, an dessen kleinem Balkenvorbau ein bleiches Fähnchen mit dem roten Kreuz hing. Und dann setzte er sich auf seinen Rucksack, das Gewehr vor der Brust. Er saß, saß da, nichts weiter. Er atmete tief. Die bei aller Kälte feuchte Luft erfrischte ihn. Mitunter betrachtete er das Haus, ließ den Blick weiterschweifen zum nächsten – viele, merkte er, fehlten.
Dann stand er auf und stapfte dem Dorfausgang zu. Erst die Scheune, wenn es sie gab, konnte ihn überzeugen – die Scheune, hinter der sie damals gesessen und in der sie geschlafen hatten. Und die Scheune stand genau dort, wo sie stehen musste. Überdies hätte es auch dieser Scheune gar nicht bedurft, er hatte ja im Grunde genommen doch schon vorher das Dorf wiedererkannt. Von ferne, auf der Straße stehend, betrachtete er die Scheune.

Schließlich kehrte er um und fand bald ganz in der Nähe seine Kompanie, die – aus der ersten Linie zurückgezogen – hier in Ruhestellung lag. Ein allgemeines Erstaunen empfing ihn, ein paar verlegene Händedrücke und scheues Gemurmel des Beileids, das er nicht zu hören schien. Verwirrt erfuhr er, man habe mit seiner vorzeitigen Rückkehr gar nicht gerechnet und es sei fraglich, ob er bei der Kompanie bleibe und nicht zu einem Wachkommando weiter hinten versetzt werde. Einstweilen könne er natürlich bleiben. Er hockte den Nachmittag über stumm in verschiedenen Zelten und verbreitete eine lähmende Stille um sich, als sei sein Unglück so groß, dass er unter Menschen keine Heimstatt mehr haben könnte.

Heimkehr zum Kinde

So nahm es niemand wunder, dass er am Abend nicht mehr da war. Es hieß unter den Kameraden, dass er mit Erlaubnis des Fähnrichs noch einmal nach hinten durfte, da er etwas vergessen habe und dazu mit dem Transport der Verwundeten und der „stillen Jungen“ zurückfahren konnte. Diese enthoben ihn auch der Mühe, reden zu müssen. Er sprach erst wieder, als er am Vormittag des folgenden Tages vor dem Heim für elternlose Kinder stand und Einlass begehrte. In voller Feldausrüstung stand er vor den Frauen, die auf der Schwelle standen, und versuchte herauszufinden, ob er hier am rechten Ort sei. Er wolle Juhani aus Kangasjärvi sehen, das sei sein Kind, sein Sohn, ungefähr eineinhalb Jahre alt oder so…

Man bat ihn herein, und wortkarg gab er auf die vielen Fragen Antwort, von denen allen man irgendwie zu wissen schien und was er zur Rechtfertigung seines Ansinnens anführte, mit allem verglich, was in einem Buch vermerkt stand.
Und mit einemmal – er hatte das noch gar nicht erwartet, er war noch völlig unvorbereitet – mit einemmal machte die Frauensperson, mit der er geredet hatte, eine Bewegung… Bitte, er solle mit ihr kommen! Jänttinen starrte sie fassungslos an. Dann stolperte er ihr mit tauben Füßen nach. Sie führte ihn durch den Gang in ein sehr geräumiges, beinahe saalartiges Zimmer, in dem in der einen Ecke Kinderbetten so eng nebeneinander gerückt standen, dass kaum noch Platz zwischen ihnen blieb, während in dem freien Raum beim Fenster kleine Kinder umherschwankten und spielten. (…)

An der Tür blieb die Frau mit ihm stehen und fragte, ob er ihn wiederkenne. Jänttinen, der wie gebannt zu den Betten blickte, antwortete, er könne von hier aus nicht in die Betten hineinsehen. Aber da sei doch der Juhani gar nicht! Ein Bürschchen von anderthalb Jahren liege nicht mehr im Bett.
Da sehe man, dass er selber keine Kinder habe. Jänttinen antwortete nicht. Er ging weiter ins Zimmer hinein, auf die spielenden Kinder zu, die bei seinem Nahen innehielten und aufblickten.
Die Pflegerin sah, wie er mit schlaff herabhängenden Armen auf die Schar zuging, stehen blieb und irgendetwas sagte, was sie nicht verstand. Dann aber gewahrte sie, wie Juhani, der kleine Findling aus Kangasjärvi, mit einemmal zu dem fremden Soldaten aufblickte und wie ein kaum merklicher Widerschein des Erkennens über das kleine Gesicht ging.

Im selben Augenblick hockte der Soldat nieder, und blieb auf den Knien. Er streckte die Hände nach dem Kinde aus, das langsam auf ihn zukam und sich von ihm in die Arme schließen ließ. Jänttinens Hände legten sich um den mageren Rücken und streichelten ihn. „Juhani, Jussi!“ murmelte er, und das Kind plapperte ihm etwas ins Ohr, was wohl nur er zu deuten verstand – vielleicht über das Begreifen hinaus das wehmütige und zugleich freudige Wissen, dass seit der einen Heiligen Nacht der Geburt keiner von uns Menschen mehr nur für sich leben kann, aber dass wir auch alle nicht mehr für uns allein sterben können; dass wir für einander verloren werden und für einander gefunden, bis wir vereinigt werden in der einen Hand.
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* Wörtliche Formulierungen Edzard Schapers sind kursiv gekennzeichnet.

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Quelle:
https://fassadenkratzer.wordpress.com/2022/12/23/die-behutung-des-kindes/#more-10772


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