Zu Ehren von dottore: Vom Wohlstand bleibt nur ein Teller Tsatsiki (Originaltext)

weissgarnix ⌂, München, Montag, 25.05.2020, 17:06 (vor 1430 Tagen) @ Hausmeister5293 Views
bearbeitet von Hausmeister, Montag, 25.05.2020, 19:42

Hallo Leute,

habe heute erst erfahren, dass dottore verschieden ist. Bin sehr traurig darüber.

Zu seinen Ehren, hier der letzte Text, zu dem er und ich gemeinsam was gemacht haben, in voller Länge. War im Mai 2010, auf dem Höhepunkt der Griechenland-Krise. Der gesamte Tsatsiki-Topos ist bekanntlich aus einem seiner Bücher.

RIP dottore

wgn

+++


Vom Wohlstand bleibt nur ein Teller Tsatsiki

„Ein junger Berliner leiht sich bei seiner Bank 1000 Mark für ein flottes Wochenende in München. Alles bestens. Nach einem Jahr will er sich wieder 1000 Mark leihen.

Ja, sagt die Bank, wir müssen aber 100 Mark Zinsen einbehalten.

Wieder ein Jahr später will er wieder 1000 Mark. Die Bank sagt: Klar, abzüglich 200 Mark Zinsen.

Mit den 800 Mark fährt der Mann nach Coburg. Und so weiter.

Schließlich kommt der Mann in die Bank und sagt: Noch mal 1000 Mark.

Ja, sagt die Bank, aber 900 Mark gehen inzwischen für Zinsen ab, die wir gleich einbehalten. Hier sind die restlichen 100 Mark.

Die nimmt der Mann und geht mit Bruder und Freundin um die Ecke zum Griechen. Sie bestellen Retsina, Oliven, Weinblätter, drei Portionen Gyros.

Obwohl der Mann jedes Jahr 1000 Mark Schulden gemacht hat, ging seine Nachfrage nach den Dingen des Lebens immer mehr zurück.

Noch ein Jahr später wird er wieder 1000 Mark Schulden machen, aber er kriegt keinen Pfennig ausgezahlt.

Er kann sich nicht mal mehr den Griechen leisten. Er läuft heulend am Lokal vorbei. Der Grieche ist ein netter Mensch und schenkt dem Mann – was? Eine Portion Tsatsiki.

Genau das ist die Lage des Staates. Obwohl er immer weiter Schulden macht, hat er immer weniger Geld zur Verfügung, das er ausgeben könnte.

Der Finanzminister läuft heulend durch die Straßen. Der Staat macht Schulden, weil er Schulden hat. Das ist das Finale.“

Ob da die Vorahnung aus Journalist und Sachbuchautor Paul C. Martin sprach, als er 1997 den Staatsbankrott ausgerechnet beim Griechen ums Eck stattfinden ließ?

Und das Ganze in der für ihn typischen Art auch noch als „Tsatsiki-Effekt“ etikettierte?

Wer weiß. Jedenfalls kann man die Probleme Griechenlands kaum besser auf den Punkt bringen als mit seiner kleinen Anekdote:

Der Staat macht immer neue Schulden, um alte Löcher zu stopfen, weil die Einnahmen dafür nicht reichen. Das verschafft einen Moment lang Ruhe, hält die Straße frei vom Protest der Massen und verschafft genehme politische Mehrheiten.

Nichts, was als griechische Spezialität auf der Karte stehen sollte, denn im Unterschied zu Gyros und Retsina gehört der Kauf von Massenloyalität in einem Bieterwettkampf zum politischen Geschäft jeder Demokratie.

Natürlich steht er unter Finanzierungsvorbehalt, und an dem scheitert das Geschäftsmodell früher oder später: Wo die Ausgaben die Einnahmen übersteigen, werden die finanziellen Probleme stillschweigend größer und größer, die Gesellschaft macht Bekanntschaft mit dem Zinseszinseffekt – und der kennt keine Gnade: Der staatliche Schuldenberg wächst rasant, doch für die Gestaltung von Gegenwart und Zukunft stehen keine Mittel zur Verfügung – nein, sie dienen ausschließlich der Bewältigung der Vergangenheit.

Wie bei dem jungen Mann in Martins kleiner Geschichte, der seine Ansprüche in dem Ausmaß zurückschrauben muss, wie ihn seine Schuldnerbiographie einholt: Es begann mit einem Wochenende in Saus und Braus und endet bei nicht mehr als einem Teller gehobelter Gurken in pikanter Soße – ein Schicksal, das für Millionen Griechen zur Realität wird.

Und nicht nur für sie. Die elende Janusköpfigkeit des Kredits zeigt sich, sobald Schulden für andere Zwecke verwendet werden als die kontinuierliche Schaffung eines Mehrprodukts: Nur dann bringen sie die Mittel hervor, mittels derer sie bei Fälligkeit wieder aus der Welt geschafft werden können.

Wer sich verschuldet, wettet implizit auf Wachstum, da mag der Zeitgeist noch so viele Druckwerke über den „wachstumslosen Wohlstand“ hervorbringen: Nur wenn der Kuchen größer wird, können Zinsforderungen schmerzfrei bedient werden.

Alles andere ist Verteilungskampf. Und in dem haben die Gläubiger – zumindest bisher – die besseren Karten: Sie werden voll ausbezahlt.

Alle übrigen müssen sich mit Sparappellen begnügen – und den Moralitätsbekundungen ihrer europäischen Nachbarn.

Wo Kredit im Spiel ist, ist die Moral nicht weit: Schuld und Schulden weisen starke Ähnlichkeit darin auf, dass das Leben des Belasteten an einen in der Vergangenheit geknüpften Knoten gebunden bleibt, schreibt Sloterdijk in „Zorn und Zeit“.

Gemeinsam stiften sie einen rückwärtsgewandten Beziehungszwang, der dem Gewesenen die Vorherrschaft über das Kommende einräumt.

Eine Dominanz, die im politischen Geschäft ihre Entsprechung findet und den wohlerworbenen Rechten schon immer eine starke Lobby gegenüber den aktuellen Daseinsnöten verschaffte, während die Zukunftschancen regelrecht an die Wand gedrückt wurden.

Ein tiefer Graben verläuft entlang der Generationengrenzen, auf dessen einer Seite sich gesetzliche Rentengarantien unter mallorquinischer Sonne darüber mokieren, dass den Bildungschancen auf der gegenüberliegenden Seite nicht mehr bleibt als ein Teller Tsatsiki.

Und er verläuft entlang der Grenze von Gläubiger- und Schuldner-Nationen, an denen sich das Abzahlen und das Heimzahlen in erbitterter Konfrontation gegenüberstehen.

Den Griechen helfen – wieso? Der Gedanke empört im Land der Gläubiger, schließlich haben die Griechen doch . . . und sie müssten ja nur . . . auf keinen Fall wird man daher . . ., während die Frage, wie man überhaupt in die Situation geraten konnte, im Lärm der Feuilletons und Wirtschaftsspalten untergeht. Die Rede von der mangelnden Wettbewerbsfähigkeit, der Korruption und dem Schlendrian verliert in jenem ersten und einzigen Augenblick ihren Sinn, in dem trotz allem einer den Griechen Kredit gewährte.

Die Finanzierung läuft dem Einkauf voraus, der Shopper ohne Kreditrahmen scheitert spätestens an der Ladenkasse. Hätten die in Saus und Braus lebenden Griechen, als die sie sich jetzt auf dem deutschen Boulevard präsentieren, nicht einen Dummen gefunden, der ihnen ebenso begeistert seine eigenen Ersparnisse überlassen hätte – auf nicht viel mehr als die urbane Legende hin, dass heutzutage kein Staat mehr Pleite gehen kann –, sie wären erst gar nicht in ihre missliche Lage geraten und ihre Gläubiger auch nicht.

So aber waren die Gläubiger nur zu gerne bereit, ihrem griechischen Kunden den Einkauf auf Pump zu gestatten, denn schließlich musste der Rubel irgendwie rollen, und über den Rest konnte man sich auch später den Kopf zerbrechen.

Ein Exportwunder ward geboren, alleine es stand auf wackeligen Füßen. Das interessierte aber zunächst niemanden, weder auf Seiten derer, die auf offene Rechnung importierten, noch jener, die exportierten und finanzierten.

Aber jedes Ding hat nun mal zwei Seiten, das ist in diesem Drama nicht anders: Der allenthalben zu vernehmende Ruf nach Umschuldung klingt daher nur so lange gut, als nur eine Seite der Unterscheidung beleuchtet und die andere ausgeblendet wird; und verliert in dem Moment an Attraktivität, wo sich herausstellt, wem genau da ein „Haircut“ verpasst werden soll.

Genau das macht es für Bundeskanzlerin Merkel so schwierig, dem Volk deutscher Sparer und Exporteure zu erklären, warum an der kollektiven Rettung der griechischen Staatsfinanzen gar kein Weg vorbeiführt: Weil sich nur so bewahrheiten kann, was implizit von allen immer vorausgesetzt wurde, nämlich dass selbst der unbedarfteste Gläubiger mit heiler Haut davonkommen wird.

Sie hat die Wahl, die Griechen fallenzulassen und damit die europäischen Banken und ihre Kunden gleich in die nächste Krise zu stürzen.

Könnte sie eine solche, echte Umschuldung politisch überleben? Eine, die an die Banken und die deutschen Sparer tatsächlich weitergereicht wird und an die Beschäftigten des Mittelstands, der darob einmal mehr finanziell ausgetrocknet wird und Arbeitsplätze abbauen muss?

Oder würde nicht erneut der Steuerzahler in den Ring steigen müssen, um gegen die normative Kraft des Faktischen anzutreten?

Die andere Option besteht darin, den Griechen einen finanziellen Salbenverband anzulegen und darauf zu hoffen, dass ein Wirtschaftswunder den Rest erledigt.

Die Stunde der Wahrheit wird damit wenigstens hinausgeschoben.

Wenn sie kommt, dann werden auch wir uns, so oder so, mit der Einsicht anfreunden müssen, dass man auch mit einem nackten Teller Tsatsiki durchaus ein Mahl bestreiten kann.


gesamter Thread:

RSS-Feed dieser Diskussion

Werbung