Der radikale Konstruktivismus und die Abschaffung der Wahrheit

Naclador @, Göttingen, Donnerstag, 21.02.2019, 13:26 vor 2101 Tagen 7539 Views

Der radikale Konstruktivismus, Wikipedia-Definition:

„Der Radikale Konstruktivismus ist eine Position der Erkenntnistheorie, die sich deutlich von anderen Konstruktivismen unterscheidet. Eine der Grundannahmen des radikalen Konstruktivismus ist, dass die persönliche Wahrnehmung nicht das Abbild einer Realität produzieren kann, welche unabhängig vom Individuum besteht, sondern dass Realität für jedes Individuum immer nur eine Konstruktion seiner eigenen Sinnesreize und seiner Gedächtnisleistung bedeutet. Deshalb ist Objektivität im Sinne einer Übereinstimmung von wahrgenommenem (konstruiertem) Bild und Realität unmöglich; jede Wahrnehmung ist vollständig subjektiv. Darin besteht die Radikalität (Kompromisslosigkeit) des radikalen Konstruktivismus.“

@Ashitaka hat am 30.05.2013 ein verwandtes Weltbild vorgestellt:
„Denken, Wahrnehmen, Fühlen, Glauben, Wissen .... das sind für mich alles Modellierungen eines neuronalen Korrelats. Der Begriff "Wahrnehmung" hat mich und die Neurowissenschaft wohl lange genug irre geführt.

Sowie Thomas Metzinger begreife ich mich und meine Selbstmodelle (körperlich, global, universell) mittlerweile als eine Umgebung, die nur als Emulationen bestehen können.

Das ist ein sehr befreiendes Weltbild, auch wenn es so zunächst nicht verstanden werden kann. Dies liegt vorrangig daran, dass wir von einer Physik ausgehen, die geometrisch gedacht (modelliert) wird, und wir deshalb gezwungen sind, zwischen "Innen & Außen" zu unterscheiden.“

@Silke hat mich kürzlich auf diesen Beitrag aufmerksam gemacht.

Ich möchte einmal kurz beleuchten, was eine solche erkenntnistheoretische Grundlage für Auswirkungen hat:

Wenn wir annehmen, dass eine objektive Realität, unabhängig von der individuellen Erfahrung, nicht existiert, dann können verschiedene Individuen über einen Sachverhalt höchstens zufällig zum gleichen Ergebnis kommen. Es bedeutet auch, dass die Wirklichkeiten aller Individuen untereinander gleichwertig sind, denn kein Individuum kann zu besserer oder mehr Erkenntnis fähig sein als ein anderes.

Auf dieser Grundlage kann es eine Unterscheidung zwischen Lüge und Wahrheit nicht geben. Wahr ist das, was mein Selbstmodell als Wahrheit modelliert. Ich kann meine Sichtweise, wenn sie von der Sichtweise der meisten anderen Individuen abweicht, mit Fug und Recht als „alternative facts“ bezeichnen. Wieso sollte die Realität der Anderen Vorrang vor meiner eigenen Realität haben? Der radikale Konstruktivismus ist damit für mich die erkenntnistheoretische Grundlage des postfaktischen Zeitalters. Die Relotiuspresse lügt nicht: Sie schafft Realität! Was als wahr simuliert wird, ist auch wahr.

Das bedeutet auch, dass es keine Rechtfertigung mehr für eine Justiz gibt, denn auf Grundlage von wessen Simulation der Welt sollte das Gericht denn urteilen? Wieso sollte die Realität der Zeugen mehr Gewicht haben als die Realität des Täters? Wo keine Objektivität existiert, kann es auch keine Gerechtigkeit geben, keine Verbrechen, keine Täter, keine Opfer, keine Verantwortung, keine Geschichte. Ohne objektive Realität ist alles nichts.
Ich halte daher den radikalen Konstruktivismus für eine außerordentlich gefährliche Geisteshaltung.

Was meint Ihr?

--
"Nur die Lüge benötigt die Stütze der Staatsgewalt. Die Wahrheit steht von alleine aufrecht."
Thomas Jefferson

Volle Zustimmung

Fleet @, Tor zum Harz ex NL, Donnerstag, 21.02.2019, 14:00 vor 2101 Tagen @ Naclador 5822 Views

Ich halte daher den radikalen Konstruktivismus für eine außerordentlich
gefährliche Geisteshaltung.

Für mich eine absolut pathologische Ausfallerscheinung.
So gehen Zivilsationen unter ... und eine Existenzform der KI.

--
"Das ist schön bei den Deutschen: Keiner ist so verrückt, dass er nicht einen noch Verrückteren fände, der ihn versteht." (H. Heine)

Konstruktivismus

Kurt @, Donnerstag, 21.02.2019, 15:37 vor 2101 Tagen @ Naclador 6266 Views

Ein sehr erfreulicher Beitrag, zu dem ich mich gerne tage- und wochenlang auslassen würde, u.a. da ich mich seit drei Jahrzehnten mit dem radikalen Konstruktivismus befasse.

Die Schlussfolgerungen in den letzten drei Paragrafen sind allerdings vergleichbar, ich sag mal unvollständig, wie der beliebte Fehlschluss des Fatalismus aus der Kausalität.

Um dies jedoch näher zu beleuchten, müsste man sich wie üblich wieder vertieft mit der (biologischen) Autopoiese und mit der Thermodynamik befassen.

Hierzu reicht nur aktuell wieder der Randâ„¢ nicht.

Eine spektakuläre Schlussfolgerung aus dem Konstruktivismus sowie verwandten Gebieten findet sich seit einiger Zeit auch in meiner Signatur.

Bis bald
Kurt

--
Für das verantwortlich zu sein, was ich sage, ist eine Sache.
Aber dafür verantwortlich zu sein, was jeder, der in meinem Leben vorkommt,
sagt oder tut, ist eine ganz andere Sache.

Freut mich, dass das Thema Dich mal wieder in die Tasten greifen lässt.

Naclador @, Göttingen, Donnerstag, 21.02.2019, 15:53 vor 2101 Tagen @ Kurt 5487 Views

Hallo Kurt,

Die Schlussfolgerungen in den letzten drei Paragrafen sind allerdings
vergleichbar, ich sag mal unvollständig, wie der
beliebte
Fehlschluss
des Fatalismus aus der Kausalität.

Das mag ich wohl glauben, ich habe erst vergleichsweise kurz über das Problem nachgedacht. Aber wenn Du mal Zeit hast, kannst du vielleicht in ein paar Stichpunkten erläutern, worin Du meinen Denkfehler siehst.

Um dies jedoch näher zu beleuchten, müsste man sich wie üblich wieder
vertieft mit der (biologischen) Autopoiese und mit der Thermodynamik
befassen.

Nur zu, in der Thermodynamik bin ich vergleichsweise sattelfest. Allerdings sollte das für die logischen Konsequenzen aus der Nichtexistenz einer objektiven Realität vergleichsweise wenig Relevanz haben.

Bis bald
Kurt

Na das hoffe ich doch! Beste Grüße,
Naclador

--
"Nur die Lüge benötigt die Stütze der Staatsgewalt. Die Wahrheit steht von alleine aufrecht."
Thomas Jefferson

Erkenntnis der Erkenntnis

Falkenauge @, Donnerstag, 21.02.2019, 22:08 vor 2101 Tagen @ Naclador 5105 Views

bearbeitet von unbekannt, Donnerstag, 21.02.2019, 22:51

In Wikipedia heißt es noch: "Der radikale Konstruktivismus besagt, dass das gesamte Wissen nur in den Köpfen von Individuen existiert und dass ein denkendes Individuum sein Wissen nur auf der Grundlage der eigenen Erfahrung über seine Körpersinne zusammenfügen kann. Kein Individuum kann die Grenzen seiner persönlichen Erfahrung überschreiten."

Danach sollen also nicht nur die Wahrnehmungen subjektiv sein, sondern auch die Begriffe und Ideen. Das ist für die Theorie noch viel entscheidender. Begriffe seien also nicht in der Lage die Wahrnehmungen objektiv zu bestimmen.

Dabei wird aber übersehen, dass man selbst unvermerkt Begriffe verwendet, um die Theorie des Kunstruktivismus aufzustellen und für ihn eine objektive Gültigkeit zu beanspruchen.
Damit hebt sich die Theorie selbst auf. Sie erklärt Wissen, das aus Begriffen besteht, für nur in den subjektiven Köpfen existierend, kann dies aber nur mit Begriffen bestimmen, die aber objektiv wahr sein sollen.

Das ist keine voraussetzungslose Wissenschaft. Eine solche muss den Erkenntnisprozess selbst als Gegenstand der Erkenntnis in den Blick nehmen, um hier zur Klarheit zu kommen. Vgl.: Erkenntnis der Erkenntnis

Konstruktuive Frustbewältigung

trosinette @, Freitag, 22.02.2019, 07:30 vor 2100 Tagen @ Naclador 4718 Views

Guten Tag,

Was meint Ihr?

Ich meine, es gibt eine objektive Wahrheit. Ich kann sie nur nicht objektiv erfassen.
Sollte mich dieser Umstand irgendwann hinreichen frustrieren, konvertiere ich zum radikalen Konstruktivismus.

Mit freundlichen Grüßen
Schneider

Eine "objektive Wahrheit."...

sensortimecom ⌂ @, Freitag, 22.02.2019, 08:19 vor 2100 Tagen @ trosinette 4672 Views

...existiert nur bei dem, der imstande ist, sie selber zu "erzeugen". Also bei GOTT. Wenn ich nicht an den Nämlichen glaube, muss ich mich gezwungenermassen mit der Position des radikalen Konstruktivismus zufrieden geben, die übrigens wissenschaftlich erhärtet ist wie kaum sonst was. Auch seitens der Physik (QT), der Neurophysiologie, ja sogar der Logik (Gödel, Tarski etc).

Wieso folgt der RK aus der QT?

Naclador @, Göttingen, Freitag, 22.02.2019, 12:53 vor 2100 Tagen @ sensortimecom 4769 Views

Hallo sensortimecom,

Wieso meinst Du, dass aus der Quantenmechanik der radikale Konstruktivismus folgen würde?

Viele Grüße,
Naclador

--
"Nur die Lüge benötigt die Stütze der Staatsgewalt. Die Wahrheit steht von alleine aufrecht."
Thomas Jefferson

Folgt nicht direkt daraus, aber...

sensortimecom ⌂ @, Freitag, 22.02.2019, 18:27 vor 2100 Tagen @ Naclador 4666 Views

bearbeitet von unbekannt, Freitag, 22.02.2019, 19:13

siehe
Philgrundsyst's.blog
"Quantentheorie als Konstruktivismus"

auch lesen: Stephan Stetter: Säen und Ernten.

Fest steht, dass Ernst v. Glasersfeld und Heinz v. Förster massgebend von den Erkenntnissen der Quantenphysik in der 1. Hälfte des 20. Jhdt. beeinflusst wurden.

Wichtig dabei war auch die sog. "Kopenhagener Deutung" der QT durch Nils Bohr.

Der zusammenhängende Gedanke dahinter ist ja auch klar: Wenn ich Dekohärenz, also den Kollaps der Wellenfunktion, und somit den Transfer von der Quantenwelt in die REALE (klassische) Welt, nur per WAHRNEHMUNG und BEOBACHTUNG erreiche (wobei diese nicht allein auf biologische "Betrachter" beschränkt ist wie man früher glaubte!) was liegt näher, als subjektive WAHRNEHMUNG und BEOBACHTUNG als alleiniges Mittel zur Erkenntnisgewinnung zu sehen, Wahrheit als "Konstrukt" zu betrachten, und auch zu sagen: es gibt keine "objektive" Wahrheit.

Hallo sensortimecom,

Wieso meinst Du, dass aus der Quantenmechanik der radikale
Konstruktivismus folgen würde?

Viele Grüße,
Naclador

Das Dritte neben "gibt's" und "gibt's nicht"

heller, Freitag, 22.02.2019, 09:00 vor 2100 Tagen @ Naclador 4655 Views

Was Du vom radikalen Konstruktivismus geschrieben hast erinnert mich sehr an die buddhistische Erkenntnistheore (oder sollte man besser sagen "Erkenntnispraxis" nach 2500 Jahren und Millionen beteiligter Forscher :-))

Nimm zum Beispiel Dein "Ich"-Empfinden: es erscheint ja (mehr oder weniger oft jeden Tag) deutlich wahrnehmbar. Also existiert des zweifellos. (Ansonsten hast Du ein Problem.)
Aber wenn Du es genau beschreiben willst oder festhalten, kriegst Du es nicht zu fassen. Es ist nicht nur subjektiv, sondern auch prozesshaft (Heisenberg lässt grüßen). Also gibt es nichts daran, was definitiv und irgendwie dauerhaft existiert. (Sonst hast Du auch ein Problem.)
Das lässt sich auf alles in der Welt übertragen. Gott ist der Versuch, wenigstens 1 Ding zu fixieren. Damit wird das Problem aber nicht gelöst sondern nur versteckt oder auf den jüngsten Tag verschoben.

99,99% der Menschen haben also das ein oder das andere Problem mit dieser Existenz oder Nichtexistenz (von "ich" sowohl als von "Gott"). Und das merkt man an ihrem Umgang mit der Mitwelt. Soviel Angst, soviel Hass, soviel Ignoranz.

Ein paar wenige Prozent, beschäftigen sich immerhin damit, möglichst vorurteilsfrei das Problem zu untersuchen und lassen sich nicht von denen, die irgendwelche fixen Konzepte (egal ob Religion, Positivismus, Nihilismus oder eklektischen Unsinn) unters Volk bringen, beirren.

Diese Forschungsarbeit ist sehr spannend. Und wenn man sich nach ein paar Jahren dann langsam damit anfreundet, dass die Realität keinen festen Grund hat, stellt man wohl überrascht fest, dass man - im bildlichen Sinne - trotzdem noch sehr entspannt Auto fahren und Termine einhalten kann. Und dass man andererseits gut daran tut, die Verkehrsregeln und Straßenverhältnis wach zu beachten und sich um seine Arbeit und die Mitwelt zu kümmern. Sonst ist es mit der Entspannung ziemlich schnell vorbei (außer man ist bereits völlig jenseits von Konzepten). Denn die Grenze zwischen Ich und Mitwelt ist ja auch bei genauerem Hinsehen ziemlich schwammig.

Sonnigen Gruß
Heller (statt dunkler)

@Ashitaka: "All diejenigen, die sich nach steigender Resonanzen und Bestätigungen sehnen, …

Ostfriese @, Freitag, 22.02.2019, 14:11 vor 2100 Tagen @ Naclador 4926 Views

… blenden die dafür notwendigen Nichtresonanzen aus."

Hallo Naclador

Ich halte daher den radikalen Konstruktivismus für eine außerordentlich
gefährliche Geisteshaltung.

Was meint Ihr?

Gäbe es in einem Diskurs über 'Wahrheit' nicht als Gegengewicht zur 'Resonanz' auch ein 'Nichtmitschwingen' der Meinungen, würde eine Art intellektueller Kollaps durch übergroße, sich selbst verstärkende ordnende Bestätigungen entstehen.

Das eine kann ohne das andere nicht existieren. Es gibt die allseits gültige und ersehnte 'Wahrheit' nicht. Die Resonanz aller im Hinblick auf die eine Meinung führt zur unendlichen Verstärkung – und damit zum Kollaps. Wir kennen doch das Phänomen der 'Resonanzkatastrophe'. Die im Gleichschritt marschierende Soldatenkolonne kann eine massive Brücke zum Einsturz bringen, wenn die Schrittfrequenz mit der Eigenschwingungsfrequenz der Brücke resoniert

Ich ahne, dass Beatrice Lukas' Abhandlung und die QM in der Interpretation von Hans-Peter Dürr in @Ashitakas zukünftigen Darlegungen eine sehr wichtige Rolle ("Die Fibonacci-EMAs sind der Schlüssel zu allem.") spielen werden. B. Lukas schreibt:

"Gäbe es nicht irgendwo als Gegengewicht zum Phänomen "Resonanz" das des "Nichtmitschwingens", so würden die in Relation stehenden Phasen aller Schwingungen einander enorm verstärken und sich in unkontrollierbarem Maße, bis ins Unermessliche hinein aufschaukeln. In Kürze würde sich die Natur, die ja voll Schwingungen ist, ins Unendliche verstärken und erweitern und sich letztendlich der Schwingungsfunktion entledigen: Dies wäre eine Art funktioneller Kollaps durch übergroße, sich selbst verstärkende Ordnung. Dies wird aber nicht geschehen, da das Vorhandensein der Proportion des Goldenen Schnittes diese resonante Ordnung bricht und auf diese Weise jedes natürliche System stabilisiert."

Gruß â€“ Ostfriese

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