Samstag, 22.Juli 2017, Zentralfriedhof Gladbeck
Beginn der Trauerfeier ist um 10.15 Uhr. Schon einige Zeit vorher treffen seine Angehörigen, Freunde und Foristen sein. Sie kann man gut an ihren gelben Accessoires erkennen. Wir begrüßen einander.
Die Trauerfeier ist mit Jürgen abgestimmt.
Dann gehen wir um 10.13 Uhr in die kleine Trauerhalle. An Eingang erhält jeder ein farbiges Teelicht, dass man entzünden kann und am Boden vor der Urne aufstellt.
Nun begrüßt @pastore die Anwesenden, zuerst seine Frau, die Familien mit Kindern und Enkeln, dann die Freunde, ehemalige Arbeitskollegen und die anwesenden Foristen und Leser des Gelben Forum. Er verweist auf die gelben Accessoires.
Die Stimmung in der Kapelle ist gleichzeitig traurig, gelöst und irgendwie feierlich.
Von @konstantin ein Bild:
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@pastore: Heute haben wir uns versammelt, um Abschied von Jürgen zu nehmen, den wir als Jürgen, Elli, Chef, Rechtschreibkorrektur kennen. Jeder, der hier ist, hat in seinem Herzen jetzt auch ganz dankbare Erinnerungen an sein Leben. Ich möchte euch nun einladen, in dieser Stunde diesen Dank auszusprechen, denn Gott freut sich über dankbare Menschen.
Moment der Stille.
@pastore holt einen Löffel hervor und zeigt ihn den Anwesenden. Mit einem Löffel habe ich Jürgen kennen gelernt. Zuvor sind einige Emails hin- und hergegangen, bevor wir uns in Gelsenkirchen erstmalig an Christi Himmelfahrt getroffen haben. In seiner Wohnung meinte Jürgen, ob wir nicht um die Ecke ins Café gehen könnten. Es war herrliches Wetter und die Eis Karte auf dem Tisch verlockte mich zu der Aussage: Jetzt wäre ein Eis so richtig lecker!
Jürgen meinte darauf: O ein Eis, dass hätte ich auch gerne! Aber dann müssen Sie mir es anreichen!
Ich wusste um seine hochgradige MS. Doch da erst bemerkte ich, dass Jürgen seine Arme nicht mehr gebrauchen konnte. Er konnte geradezu soeben seinen Elektrorollstuhl steuern. Im meinem Kopf war der Satz: Warum hast Das das nicht vorher bemerkt?
Doch Jürgen hakte nach: Trauen Sie sich mir das Eis anzureichen? Ich gab ihm zur Antwort: Das wäre für mich nicht das erste Mal.
Und so saßen wir in Gelsenkirchen-Horst und genossen beide das herrliche Eis und noch einige Cappuccinos (über großen Strohhalm). Wir haben über Gott und Welt geredet und auch über seine Pläne und seine Rede zum Begräbnis.
Jürgen hat den folgenden Text selber geschrieben, ich lese ihn jetzt vor:
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Ihr Lieben,
schön, dass ihr gekommen seid, um von mir Abschied zu nehmen.
Ich habe mir überlegt, selber ein paar Worte an euch zu richten.
Diesen Text schreibe ich zu einer Zeit, da ich noch nicht weiß, ob und wie und wann mein Plan für ein selbstbestimmtes Ende realisiert wird, aber ich habe diesen Plan niemals aufgegeben, auch wenn ich zeitweise etwas anderes behauptet habe.
Es ist keine Trauerrede, allenfalls eine Abschiedsrede. Alle, die hier versammelt sind, müssen nicht trauern, oder jedenfalls nicht allzu lange. Denkt bitte alle daran, dass es mein freier Entschluss war, und zwar nicht aus einer kurzfristigen Depression heraus, sondern wohl und lange überlegt, das wissen einige von euch. Und in letzter Zeit war ich mindestens zweimal eigentlich fest entschlossen, habe aber dann doch wieder einen Rückzieher gemacht. Vielleicht war ich ein Feigling, mag sein, weil ich Angst davor hatte, irgendwann an den Folgeerscheinungen noch mehr zu leiden als jetzt schon und letztlich qualvoll zu sterben. Dann lieber früher, dafür aber human. Meine größte Angst war immer, den Zeitpunkt zu verpassen, an dem ich es noch selber entscheiden kann. So krass es auch klingen mag: Lieber viel zu früh als ein bisschen zu spät. Seid mir bitte nicht böse, ich konnte nicht anders.
Das ist nicht mein Leben! Ich konnte einfach nicht weiterleben mit diesen Einschränkungen und Schmerzen, mit dieser ständigen Hilfsbedürftigkeit. Ich habe mir selber oft genug gesagt „Anderen geht es noch viel schlechter“ und „Denk daran, was du alles noch kannst“, aber das reichte mir nicht. Mein Anspruch an ein lebenswertes Leben war einfach höher. Und in letzter Zeit haben meine gesundheitlichen Probleme die meisten Tage und Nächte zur Qual gemacht.
Ich habe sowieso nie verstanden, warum man jedem Tier, das unheilbar krank ist, ein sanftes Einschlafen ermöglicht, während Menschen sich bis zum „natürlichen“ Ende quälen müssen. Was ist daran menschlich?
Mein Leben war erfüllt und lang genug, auch wenn es statistisch gesehen vielleicht zu kurz war. Alles ist gut so. Das, was ich versäumt habe oder falsch gemacht habe, kann ich ohnehin nicht nachholen. Ich kann nur um Verzeihung bitten, und das nicht zuletzt bei meinen Kindern, um die ich mich viel zu wenig gekümmert habe – und die ich definitiv teilweise so lieblos behandelt habe, als sie noch klein waren, dass es eigentlich unverzeihlich ist. Umso mehr freut mich, dass aus Ihnen anständige Menschen geworden sind.
(Jetzt kommen sehr private Worte von Jürgen an seine Familie, sehr ehrlich, erschütternd bewegend und heilend zugleich. Diese Worte sind hier nicht wiedergegeben.)
…Viele andere Menschen, die mir wichtig waren und denen ich sehr dankbar bin, könnte und müsste ich jetzt noch erwähnen, Freunde, Bekannte, auch aus dem Forum, aber es sind so viele und letztlich würde ich womöglich jemanden vergessen.
Ich hatte fast immer nur Arbeit im Kopf und in den letzten 17 Jahren war das Forum mein Lebensmittelpunkt. Das hatte aber immerhin den Vorteil, dass ich mir die letzten Jahre noch ein weitgehend selbstbestimmtes Leben finanzieren konnte, denn in einem Pflegeheim wäre ich schon längst zugrunde gegangen.
Ich habe für heute drei Lieder ausgesucht. Ein eher trauriges, aber auch weniger traurige, zum Schluss. Wir beginnen mit „Dante's Prayer“ von Loreena McKennitt – hört einfach nur zu.
(Lied Nummer 01) – Bei YouTube: https://www.youtube.com/watch?v=HUHvj1cxOs0
Hinweis von mir: Der englische Text ist nur schwer zu verstehen. Ich habe Jürgen eine deutsche Übersetzung geben, die ihm sehr gefallen hat. Ich werde sie noch verwenden.
Und jeder von euch sollte immer daran denken, dass ich jetzt von all dem erlöst bin, was mich in den letzten Jahren der Hilflosigkeit und des Gefangenseins im Rollstuhl langsam aber sicher mürbe und im wahrsten Sinne des Wortes des Lebens müde gemacht hat. Und in letzter Zeit gab es immer mehr Komplikationen, die früher oder später zur Qual geworden wären, noch mehr als schon zuletzt. Ich bin so froh, dass ich das nicht durchmachen muss.
Niemand anders außer mir selber kann verständlicherweise nachvollziehen, wie ich meine Situation empfunden habe. Es ist nicht meine Vorstellung von Leben, nur noch sehr eingeschränkt daran teilnehmen zu können – und vor allem, ständig auf Hilfe angewiesen zu sein. Die in letzter Zeit aufgetretenen gesundheitlichen Probleme haben mir schon gereicht. Andere mögen das anders sehen, aber bei mir war es nun mal so. Ich möchte auf keinen Fall in die Lage kommen, den Zeitpunkt nicht mehr bestimmen zu können. Deshalb lieber viel zu früh als einen Tag zu spät. Oft hat mir jemand gesagt „Anderen geht es noch viel schlechter als dir“ oder „Denk daran, was du noch alles kannst“ – aber das war nicht wirklich ein Trost. Jeder hat eben eine persönliche Grenze dessen, was er ertragen kann.
Hier muss @pastore den Hinweis geben, dass das vorgegebene Zeit-Limit nun erreicht ist. Wir werden bei diesem schönen Wetter dann am Grab weiter seine Worte bedenken.
Ich verweise nun auf Rosi. Sie wird die Urne tragen. Damit bestätigt sie die Worte von Jürgen, dass sie eine starke Frau sei. Ein Forist übernimmt freundlicherweise die tragbare MP3-Mikrofonanlage. Wir gehen gemeinsam.
Am Grab angekommen wird die Urne erst einmal hingestellt. Dann lauschen wir dem Lied: „Du bleibst immer bei mir“.
(Lied Nummer 02) – Bei YouTube: https://www.youtube.com/watch?v=gjfE1fa-iVk
Schon vor etwa 10 oder 15 Jahren hatte ich mir geschworen, es mit dieser Hilflosigkeit niemals so weit kommen zu lassen. Aber man wächst in diese Situation hinein, zum Glück. Und so hat sich dieser Punkt des Nicht-mehr-akzeptieren-Könnens immer weiter verschoben, denn es ging ja noch irgendwie immer weiter. Aber irgendwann, je länger diese Situation andauerte, desto mehr hat sie mich, wie schon gesagt, mürbegemacht und regelrecht ausgelaugt. Es war gar nicht mal irgendeine große Sache (abgesehen von der Angst, dass große Qualen auf mich zukommen), sondern es waren die vielen 1000 Kleinigkeiten, die wie Piranhas unermüdlich an mir genagt und meine Lebensenergie nach und nach aufgefressen haben. Niemand, und ich wiederhole, NIEMAND hat einen Grund, sich, für was auch immer, Vorwürfe zu machen. Niemand hätte mir helfen können. So ist nun mal das Schicksal, manchmal schlägt es einfach zu.
Ich weiß nicht, ob es etwas nach dem Tod gibt. Aber ich hoffe, dass ich euch aus der Ferne beobachten und begleiten kann, vielleicht auch gelegentlich beschützen. Ich werde mein Bestes tun. Vergesst mich nicht ganz, aber lasst mich auch in Frieden ziehen.
Passt auf euch auf, seit gut zueinander, habt ein schönes Leben. Alles ist gut.
Zuletzt das Lied: „Das Leben ist schön“.
(Lied Nummer 03) – Bei YouTube: https://www.youtube.com/watch?v=TyGclt8Oovw
@pastore: Als ich ein zweites Mal am Pfingstmontag bei Jürgen war, fiel mir eine Veränderung an ihm auf. Es waren Symptome, die ich im Zusammenhang einer anderen tödlichen Krankheit kenne. Auch er war verwundert über diese Zeichen. Am 4.Juli ist dann sein Herz zwischen 2 und 4 Uhr nachmittags stehen geblieben.
Jürgen hat ein großartiges Forum geleitet. Es ist hochkarätig. Es beschäftigt sich mit dem Debitismus. Unser System sucht immer Nachschuldner, um zu existieren.
Ich kenne jemanden, der bereit ist alle unsere Schulden zu tragen. Jesus Christus. Er soll sich nun seiner annehmen. So geht jetzt für Jürgen diese Zeit des Debitismus zu Ende.
Wir geben die Urne in das Grab.
@pastore fährt fort: Herr Jesus Christus, du hast 3 Tage im Grab gelegen und das Grab für uns zum Zeichen der Hoffnung gemacht. Wir legen nun die Urne mit der Asche von Jürgen in dieses Grab und bitten dich: Gib ihm Heimat bei dir.
@pastore nimmt den bekannten Löffel in Hand und zeigt ihn den Anwesenden: Es war einmal eine Ordensschwester, die erbat sich von einer Mitschwester: Bitte lege auf meinen Sarg einen kleinen Löffel! Auf die Nachfrage: Warum? Antwortete sie lächelnd: Das Beste kommt immer zum Schluss!
@pastore gibt den Löffel in das Urnengrab. Er wendet sich an die Anwesenden und verliest den deutschen Text zu Dante’s Prayer:
Als der finstere Wald vor mir empor wuchs
Und alle Pfade überwuchert waren,
Als die Priester des Stolzes behaupteten, es gäbe keinen anderen Weg,
Da pflügte ich steinerne Sorgen.
Ich glaubte nicht, denn ich war blind,
Obwohl du mir des Nachts erschienst.
Doch als der Morgen für immer verloren schien,
Zeigtest du mir deine Liebe im Glanz der Sterne.
Schau hinaus auf den Ozean.
Wirf deine Seele hinaus in die See.
Wenn die dunkle Nacht endlos erscheint,
Dann, bitte, erinnere dich an mich.
Dann türmte sich der Berg vor mir auf,
Beim tiefen Brunnen des Verlangens,
Inmitten der Quelle des Vergebens,
Jenseits von Eis und Feuer.
Schau hinaus auf den Ozean.
Wirf deine Seele hinaus in die See.
Wenn die dunkle Nacht endlos erscheint,
Dann, bitte, erinnere dich an mich.
Obwohl wir diesen demütigen Pfad gemeinsam beschreiten,
Wie alleine und zerbrechlich sind doch unsere Herzen.
O, verleihe diesen lehmigen Füßen Flügel,
Auf dass sie das Antlitz der Sterne berühren mögen.
Hauche diesem zaghaften Herzen Leben ein.
Lüfte den sterblichen Schleier der Furcht.
Nimm diese bröckelnde Hoffnung, schartig von Tränen,
Und wir werden uns über diese irdischen Belange erheben.
Schau hinaus auf den Ozean.
Wirf deine Seele hinaus in die See.
Wenn die dunkle Nacht endlos erscheint,
Dann, bitte, erinnere dich an mich.
Bitte, erinnere dich an mich...
Bitte, erinnere dich an mich...
@pastore: Zu jedem Verstorbenen suche ich nach einem passenden Wort aus dem Evangelium, dem Leben Jesu. Es gibt eine Stelle, wo auch jemand dies zu Jesus sagt: Erinnere dich an mich! Jesus antwortet vor seinem Sterben darauf: Heute noch, wirst du mit mir im Paradiese sein.
Erinnere dich an mich!
@pastore: Nun lade ich Sie ein, mit mir das Vater unser zu beten. Wenn Sie es vermögen, in Ihrem Herzen leise, oder auch laut mit mir.
Von den aramäischen Christen, die die Muttersprache Jesus beherrschen, habe ich gelernt, dass das Wort Vater (abba), nur durch das Herz gesprochen werden kann.
Jesus möchte die Herzensebene zu Gott herstellen.
Wir beten das Vater unser.
@pastore führt weiter: Wir danken dir, dass du durch das Licht der Auferstehung unser Leben hell gemacht hast. Führe uns alle einmal zu dem Licht der Auferstehung, durch Christus, unseren Herrn.
Dann zeichnet er mit der Hand ein großes Kreuz über das Grab von Jürgen.
Es erfolgt noch ein Hinweis: Wenn Sie nun an das Grab treten, ist ein Instrumentalstück zu hören: Compassion off the journey. (Lied 4)
Nachdem die Letzten ans Grab getreten sind, richtige ich noch eine letzte Botschaft an alle: „Jetzt sind Sie eingeladen zum gemeinsamen Kaffeetrinken in dem Sinn, wie Jürgen es formuliert hat. Ein Forist (@Konstantin) hier hat es auf seinem gelben T-Shirt: Das Leben ist schön!“
https://picload.org/view/rpwpwwpa/ellis-beerdigung2.jpg.html