OT: Giftgaseinsatz in Syrien? Wer könnte es gewesen sein, welche chemischen Kampfstoffe ließen sich nachweisen (oder nicht)?
bearbeitet von unbekannt, Donnerstag, 06.04.2017, 19:26
Daß angeblich Bashar Al-Assad den Einsatz von Giftgas im eigenen Land gegen die eigene Bevölkerung anordne oder jedenfalls gegen Insurgenten einsetzen lasse, wobei es auch zivile Opfer zu beklagen gebe, hält sich hartnäckig und der Vorwurf wird auch seit Jahren immer mal wieder erhoben.
So soll es auch vor wenigen Tagen wieder bei einem Angriff auf die von Rebellen besetzte Stadt "Khan Shaykhun" und Region gewesen sein.
Wohlan, damit es wieder heißen könnte "es stand im Gelben", hier ein paar Einschätzungen:
Aufgrund zumindest fragwürdiger Muster in der Berichterstattung an den Beschuldigungen beteiligter Organisationen, etwa der Weißhelme, tauchen auch jedesmal dieselben Zweifel auf.
Da ich neulich schon zum Tode Kim Jong Nams, des Halbbruders des mit überragender Mehrheit gewählten teuren Führers Nord-Koreas einen Beitrag über das Giftgas VX verfaßt hatte, hier nun zum in Rede stehenden (auch in Tokio eingesetzten) Sarin (Geschichte hier), das aus "alten Beständen" des Assad-Regimes stammen soll.
Ich will nicht die gesamte Geschichte von Sarin und Tabun u.a. chemischen Kampfstoffen aufrollen, das kann man bestens auch anderwärts nachlesen.
Jedoch fallen dem in solchen Dingen erfahrenen bei den Berichten zum angeblichen Giftgas-Einsatz einige Unstimmigkeiten auf:
a) Es wird davon "berichtet", daß es sich um einen parallelen Einsatz von Sarin und Chlorgas gehandelt habe.
Nun ... Chlorgas bildet mit Wasser zusammen eine sehr starke Säure, die Salzsäure, die sicher der eine oder andere schon im Haushalt verwendet hat. Sarin aber ist schon in normalem Wasser (pH 7) recht instabil und neigt in alkalischem Mileu binnen einer, in stark saurem Milieu bereits nach zwei Stunden zerfallen zu sein.
Wer also mit Sarin hantiert, vermeidet sicherlich, gleichzeitig Chlor einzusetzen und das Sarin in dem Zuge zu inaktivieren oder in der Wirkung zu behindern. Die Bilder nach den Vorkommnissen zeigen zwar Dekontamination mit Wasser gegen angebliches Chlorgas, aber wenn gleichzeitig Sarin eingesetzt worden wäre, würde man mit Wasser vorsichtigst umgehen, denn es ist stark wasserlöslich und die Aufnahme über Mund, Nase und Haut könnte dadurch gar beschleunigt werden. Diese Bilder sind also mit ziemlicher Sicherheit nicht aus einem Gebiet, in dem Verdacht auf Einsatz von Sarin bestand. Und auch sonst werden Bilder von ungeschützten "Helfern" gezeigt, dabei muß man bei Sarin-Verdacht wegen der Flüchtigkeit/Aufnahme über Haut und Atemwege nicht nur Handschuhe tragen, sondern eigentlich einen Ganzkörperschutzanzug mit einer extra auf Sarin ausgelegten Filterkartusche in der Gasmaske.
b) Es könnte natürlich auch ein reiner Chlorgas-Angriff gewesen sein, daß das aber heutzutage noch eine reguläre Armee verwendet, ist eher unwahrscheinlich, extra dafür wurden Tabun, Sarin, VX usw. entwickelt, nachdem man im ersten Weltkrieg auf deutscher Seite erstmals Chlorgas einsetzte (und verharmloste). Es gibt aber Warnungen der britischen Sicherheitsbehörden, daß gerade ISIS-Kämpfer im Einsatz von Chlorgas eingewiesen worden seien. Diese in Großbritannien vermuteten "hunderte" Chlorgas-Guerilleros hat ISIS mit einiger Sicherheit nicht in UK ausgebildet, sondern in den von ihm eroberten und längere Zeit gehaltenen Gebieten, in denen entsprechende industrielle Infrastruktur zur Chlorgasherstellung oder zumindest -lagerung und -beschaffung vorhanden war. Man weist nicht mal eben in einem Sozialwohnungsblock ein paar Kämpfer in den Umgang mit Chlorgasflaschen ein. (In USA schon eher.)
Kritische Berichte zu den behaupteten Attacken gibt es zuhauf, auch die kann jeder selbst nachlesen. Die Nachrichten sind nach wie vor widersprüchlich, bis hin zu Anzeichen für False-Flag-typisches Vorabwissen.
c) Bereits 2013 gab es eine Mission der Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW), um das -damals mit Sicherheit vorhandene!- syrische Chemiewaffenarsenal zu untersuchen und der Vernichtung zuzuführen.
In verschiedenen Berichten, z.B. in "Lessons Learned" (PDF, 49 seiten) geht die OPCW jedoch eindeutig davon aus, daß die Mission erfolgreich war.
Damit wären nach Abschluß der Mission, sagen wir mal spätestens 2015, keine Chemiewaffen mehr in syrischen Regierungsbeständen verblieben.
Nun wird auch, soweit ich die Berichte verfolgen konnte, nirgends behauptet, das Assad-Regime habe erneut mit der Herstellung von Chemiewaffen begonnen.
Nehmen wir nun an, daß spätestens mit Beginn der OPCW-Mission 2013 die Herstellung neuer Mengen an z.B. Sarin in Syrien unter Regierungshoheit aufgehört habe, und die alten Bestände zur Zufriedenheit der OPCW alle vernichtet worden seien, so kann diese Behauptung gar nicht stimmen, es sei denn, die syrische Regierung habe danach neue Kapazitäten zur Sarin-Herstellung aufgebaut oder sich solches aus dem Ausland beschafft.
Ersteres ist wegen des anhaltenden "Monitoring" der OPCW recht unwahrscheinlich, letzteres aber auch, d.h. es kommen dafür nur wenige Staaten infrage und diese ausgerechnet möchten sich vermutlich nicht die Finger an solchen Geschäften verbrennen, denn, anders als die Lieferung von Atomwaffenmaterial sind ein paar Tonnen Sarin nun kein großes Geschäft. Jeder Chemiestudent könnte das Zeug herstellen, es wäre also nur dann teuer zu verkaufen, wenn es der interessent NICHT selbst herstellen könnte. Könnte Syrien aber, bei seiner akademischen Landschaft, hat es aber aufgrund der Überwachung und der damit verbundenen Sanktionen relativ sicher nicht.
Bleibt eine dritte Möglichkeit: wie VX auch ist Sarin auch als "binäres Kampfgas" herzustellen und das ist, gerade wegen der Gefährlichkeit, etwa bei Lecks im Munitionsdepot und der kurzen Haltbarkeit, heute sicher der bevorzugte Weg. Auch das könnte jeder etwas fortgeschrittene Chemiestudent.
Aber: die Granaten, mit denen diese zwei Rohkomponenten des Sarin, ähnlich wie beim VX, verschossen würden, hätten ja zwei Kammern, aus denen heraus das Sarin dann beim Abschuß in der Zeit bis zum eintreffen im Ziel "unterwegs" hergestellt wird.
Diese Granaten sind daher derart typisch und hätten zu Dutzenden abgefeuert werden müssen und werden beim Aufprall auch nicht bis zur Unkenntlichkeit zerstört, so daß man doch nach so intensiver Suche und solchen gravierenden Anschuldigungen im UNO-Sicherheitsrat, wenigstens EINE Granate hätte präsentieren können sollen, zumal ja SOFORT Spezialisten der OPCW, das ist ja ihre Aufgabe, ins Zielgebiet entsandt wurden.
Stattdessen liest man einen Bericht im SPIEGEL, von ca. 30 Verletzten, die in der Türkei behandelt wurden, seien nun drei gestorben und die Autopsie hätte eindeutig Giftgas als Krankheits- und Todesursache erbracht.
Mit Verlaub - auch dies ist sehr merkwürdig:
1) Warum sagt man immer noch "Giftgas" und nicht, um welchen konkreten Stoff es sich handelt? Chemische Kampfstoffe sind ja nicht so zahlreich wie Insektenarten und auch nicht so schwer auseinanderzuhalten wie manche dieser.
2) Sarin zerfällt im Körper praktisch binnen 24 Stunden, jedenfalls ist der Nachweis in der Autopsie mit den bis vor kurzem üblichen Methoden kaum mehr nach so vielen Tagen zu erbringen. Von eindeutigen Spuren vor Ort habe ich bisher nichts verlässliches finden können, obwohl man genau das hätte erwarten müssen, bei akribischer Suche, und das ist ja Aufgabe der OPCW.
Am 04. April 2017 sagt die OPCW in einer Erklärung lediglich, sie se "zutiefst besorgt darüber, daß in Syrien Chemiewaffen eingesetzt worden sein sollen". Das hätte ich mir aufgrund der massenspektrometrischen und sonstigen analytischen Möglichkeiten bereits am ersten Tag anders vorgestellt. Ähnliches zum angeblichen Giftgaseinsatz in Uqayribat, im Gouvernement Hama in Syrien am 13. Dezember 2016. Also immer noch keine Verifikation der Anschuldigungen, nach dreieinhalb Monaten! Da wäre der Kampfstoff schon hundert Mal analysiert gewesen!
Es gibt eine neuere Methode der Bestimmung von sarininduzierten Protein-Addukten, die den Sarin-Nachweis auch noch nach Wochen erlaubt - hierzu findet man aber nirgends etwas. Die insges. 266 Treffer auf der OPCW-Webseite zum Term "Syria" enthalten keine aktuellen Berichte, das meiste befaßt sich mit der 2013er Abrüstungs- und Verfikations-Mission.
3) Der mögliche Einsatz von Chlorgas: Zum Fragenkomplex Chloreinsatz in Syrien hier viele weiterführende Links.
Chlorgas muß in relativ großen Mengen eingeatmet werden, um sicher tödlich oder "lähmend" zu wirken und ist daher kein "Giftgas" erster Wahl. Daß eine ohnehin auf dem Vormarsch und in der Übermacht befindliche Armee, die zudem die in den besetzten Gebieten ausharrenden Zivilisten befreien will, ausgerechnet Chlorgas einsetzt - das ist so "yesterday", daß es eben eher zu den Szenarien paßt, wonach ISIS selbst das Chlorgas eingesetzt haben, oder aber es beim Angriff auf eine Chemiefabrik dort freigesetzt wurde.
Nach anderen Berichten soll Syrien der OPCW Beweise vorgelegt haben, daß die Giftgasvorräte aus dem Besitz terroristischer Gruppen stammen.
Die Darstellungen in diesem Bericht über Kinder u.a. mit Schaum vor dem Mund passen auch sehr gut auf Chlor(gas)vergiftung. 2014 gab es in Kafr Zita bereits einen ähnlichen Angriff, den die syrische Nachrichtenagentur der Al-Nusra-Front zur Last legte, umgekehrt diese die syrische Regierung verantwortlich machte. Auch weitere Dörfer waren in der Vergangenheit mit Chlor angegriffen worden, ohne daß die OPCW den Urheber dingfest machen konnte. Immerhin stellt sie klar fest, daß die heutigen Herausforderungen Giftgasangriffe durch nicht-staatliche Organe sind, nun, da fast 100% der staatlichen Chemiewaffenvorräte (soweit die Staaten ehrlich Buch geführt und gemeldet haben) zerstört sind.
Zumindest bei einem Angriff in 2014 scheint auch die OPCW der Ansicht zu sein, daß er von Rebellen "organisiert" wurde, um die Assad-Regierung zu verleumden. Aber auch Syrer glauben an Assads Doppelspiel.
Andererseits: falls Assad Chemiewaffen einsetzen möchte, die ihm unter der Chemiewaffenkonvention noch verbleiben, dann könnte er kaum etwas anderes als Chlorgas verwenden, da dieses in jeder Industrienation in ausreichender Menge zur Verfügung steht, jedoch nicht unter die Chemiewaffenkonvention fällt, da es einfach zu verbreitet ist in der chemischen Verfahrenstechnik.
Zusammenfassend: daß es ein chemischer Angriff war, das ergibt sich i.W. aus dem Fehlen sonst für militärische Angriffe (Bomben, Schrapnell, Splitter, Brände) typischen Wunden.
Daß ich Sarin für eher unwahrscheinlich halte, insbesondere aber in Kombination mit Chlor, hatte ich begründet - entweder/oder, da Sarin durch Chlor beeinträchtigt wird. Das schließt natürlich nicht aus, Chlor auf den Häuserblock A zu werfen und Sarin auf Häuserblock B. Es fehlen jedoch Berichte zu
- den Analysen vor Ort
- den Autopsie-Befunden
- und es gibt kein corpus delicti in Form einer binären Granate (da wegen des Zeitabstandes ich frühere gelagerte Sarin-Bestände ausschließe, die mit "normalen" Behätern hätten verschossen werden können - an denen sich aber auch eindeutige Spuren hätten finden lassen müssen).
Dagegen ist möglich, daß:
- von Asssads Militär eine Chlorgasanlage getroffen wurde (immerhin sind es "nur" ein paar Dutzend Opfer - wenn man gezielt einen Bezirk "vom Feind säubern" will, dann verzettelt man sich in der chemischen Kampfführung nicht so).
- es dennoch ein Chlorgasangriff entweder der Rebellen als Abwehr-/Bestrafungsmaßnahme war oder, um das Geschehen Assad in die Schuhe zu schieben, oder daß, trotz aller Unwahrscheinlichkeit des Chlorgaseinsatzes bei regulären Truppen (weil ineffektiv gegenüber anderen Angriffsmitteln), es dennoch die syrische Regierung veranlaßt hat.
Allein, daß trotz der heutigen technischen und chemischen Detektionsmöglichkeiten keine auch nur irgendwie für einen Fachmann nachvollziehbaren Berichte auftauchen, läßt mich schon eher an eine Vertuschung der wahren Schuldigen denken.
Siehe auch: Literatur zu Erster Hilfe
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