OT: Wie wurde Kim Jong Nam, Halbbruder des nordkoreanischen Diktators Kim Jong Un, ermordet? VX, binärer chemischer Kampfstoff
Es kursieren etwas widersprüchliche Berichte über die Ermordnung des exilierten Halbbruders des nordkoreanischen Herrschers Kim Jong Un. Zuerst hieß es, er sei von zwei Frauen durch Injektion mit Nadeln getötet worden. Da wir aus diesem Forum wissen, daß stets die allerersten Medienberichte die zuverlässigsten sind, wurde die Obduktion natürlich nur zur Vertuschung des eigentlichen Herganges durchgeführt.
Eine Leserzuschrift bat mich um meine Meinung, da ich mich ja bereits sonst zu Tatortermittlungen blamiert habe.
Bei der eigentlichen Obduktion konnte man keine Nadelstiche (außer politische) feststellen und mußte daher die toxikologischen Befunde abwarten; diese können deutlich längere Zeit benötigen, als eine reine Obduktion, denn wenn man nicht weiß, wonach man sucht, muß man ja u.U. hunderte Hypothesen abprüfen, und das ganze mit einer von vornherein begrenzten Menge an Untersuchungsmaterial (Körperflüssigkeiten, Hautschabsel etc.). (Nadelstiche werden bei Obduktionen zwar oft übersehen, selbst Stiche mit dünnen, glatten Messern können unbemerkt bleiben, ebenso Pfeilspitzen, und sogar ein Einschuss in die Schläfe kann für einen vermeintlichen Schlaganfall gehalten werden oder er wird sonst übersehen. Das kommt meist dann vor, wenn das Opfer entsprechend alt oder krank war, so daß der durch diese Verletzungen herbeigeführte Tod auch auf alters- oder krankheitsbedingte Ursachen zurückgeführt werden konnte - im vorliegenden Fall war aber der Anfangsverdacht gerade der, daß man explizit nach Einstichen suchte - da wäre es unwahrscheinlich, daß man sie dann nicht fände, wären sie tatsächlich vorhanden - schwierig wird's nur bei Heroin-Fixern. Daß man erst nach langen Ausschluß-Analysen auf VX kam, führte auch dazu, daß man erst jetzt den Flughafen zu kontaminieren beginnt. Das erinnert übrigens an das Attentat auf Litvinienko mit Polonium-210, bei dem man auch anfänglich im Dunkeln tappte und daher erst sehr verspätet mit Untersuchungen an Flugzeugen und im Hotel begann, als das Polonium schon radioaktiv teilweise zerfallen war - und wer war's - auch hier mit Sicherheit ein Geheimdienst. Auch der Mossad hat solche Anschläge verübt, und auch dort wurde mal einem auf offener Straße Gift appliziert, nur wurden die Täter bei der Tat erwischt, identifiziert und der Mossad mußte dann zähneknirschend das Gegenmittel liefern.)
Laut den übereinstimmenden Medienberichten wurden zwei Frauen, die die Tat ausgeführt haben sollen, sowie mehrere weitere Tatbeteiligte ermittelt und z.T. bereits festgesetzt. Darunter auch ein unter diplomatischer Immunität leidender Mitarbeiter der nordkoreanischen Botschaft, den man vorgeladen hat, der sich aber bisher weigerte, sich vernehmen zu lassen; in Deutschland heißt das ESM. Ausgerechnet bei den beiden Frauen soll es sich nicht um Koreanerinnen, sondern um eine Vietnamesin und eine Indonesierin handeln. Diese gaben an, man habe sie in dem Glauben gewiegt, sie würden an einer Sendung wie 'Versteckte Kamera' mitwirken, hätten diese Aktion sogar mehrfach in belebten Einkaufspassagen geübt (natürlich ohne die späteren giftigen Substanzen).
Das alles paßt zu einer geheimdienstlich organisierten Aktion mit 'plausible deniability', auch wenn die malaysische Polizei ziemlich früh nordkoreanische Geheimdienstler im Visier hatte, auch wenn es nicht ausgeschlossen wurde, daß Kim Jong Nam, der im Spielerparadies Macau lebt, und dem man einen verschwenderischen Lebenswandel und eine Spielernatur nachsagt, mit der organisierten Kriminalität in Konflikt geraten sein könnte, etwa wegen Spielschulden.
Aus meiner Sicht spricht hiergegen, daß die organisierte Kriminalität meines Wissens noch nie VX-Kampfstoff eingesetzt hat; der einzige 'private' Akteur außer dem Militär, der VX, und auch nur einem einzigen Falle, anwendete, war die japanische mysteriöse Sekte ÅŒmu ShinrikyÅ, die in der Tokioter U-Bahn Giftgas-Anschläge (aber mit Sarin) verübt hatte, denen auch über 1.000 Menschen zum Opfer fielen (Erlebende und Überlebende).
Es gibt verschiedene Autoren, die der Anwendung von VX dennoch skeptisch gegenüber stehen, u.a., weil die beiden Attentäterinnen angeblich ungeschoren davon kamen, weil man Handschuhe hätte finden müssen etc. Das ist aber m.E. kein Widerspruch, allerdings muß man dazu etwas weiter ausholen, was Toxikologie, Kampfstoffkunde u.a. angeht - der direkte Nachweis ist auch in Kriegsgebieten schwierig.
Wie wurde Kim Jong Nam in Malaysia ermordet? Wie kann VX-Kampfstoff appliziert werden, ohne daß die Täter ebenfalls sterben?
Es gibt im Netz zwei Dokumente, die den Hergang ungefähr erahnen lassen. Einerseits ein Video-Zusammenschnitt mehrerer Überwachungskameras des Flughafens Kuala Lumpur International Airport und andererseits eine daraus rekonstruierte Trickfilm-Version, die insbesondere die Attacke selbst im (vermutlichen) Ablauf zeigt.
Zuerst einmal - warum muß es der Kampstoff VX gewesen sein?
Aus mehreren Gründen:
a) ein toxikologisches Labor findet keine Spuren von VX, wenn es sie am Leichnam nicht gegeben hat.
b) Die Weise des Ablebens von Kim Jong Nam stimmt mit den Symptomen einer tödlichen VX-Vergiftung überein.
c) Eine der beiden Attentäterinnen hatte ähnliche Symptome, überlebte aber, die andere hatte keine - und beides paßt, wie ich sogleich erläutern werde.
d) VX ist ein sog. 'binärer Kampfstoff', d.h. er kann entweder in fertiger Form gelagert und angewendet werden, oder aber er wird erst 'vor Ort' angemixt/synthetisiert, indem man zwei ansonsten relativ harmlose Substanzen miteinander vermischt. So werden VX-'Giftgas'-Granaten heutzutage so hergestellt, daß die beiden Ausgangsstoffe erst bei Abschuß und durch den 'Drall', die eine Granate im Lauf erhält, innigst vermischt werden, während sie vorher in zwei durch dünne, aber stabile Wände getrennten Kammern 'vor sich hin schlummern'. Dadurch sind sie in Lagerung und Handhabung relativ ungefährlich, selbst bei Unfällen passiert noch nicht allzuviel, denn dabei werden die beiden Ausgangsstoffe nur unter sehr unglücklichen Umständen genügend innig vermischt, daß sich dabei eine 'quantitative Reaktion' ergibt.
Und genau deshalb wurde vermutlich VX gewählt, und es wurden zwei Attentäterinnen ausgebildet und entsprechend instruiert. Nur, vermute ich, unterlief beiden, anders als bei den Übungen mit den harmlosen Substanzen zuvor, ein verhängnisvoller Fehler: sie hielten die einstudierte Reihenfolge nicht ein.
Gehen wir das einmal systematisch durch:
a) Kim Jong Nam betritt den Flughafen und sucht nach seinen Check-In-Schalter.
b) Kim Jong Nam steht am Check-In-Schalter.
c) Zwei Frauen nähern sich ihm und liefern sich ein kurzes 'Handgemenge', wobei man auf den unscharfen Überwachungsvideos den Hergang aber nicht genau erkennen kann.
d) Allerdings dürften z.B. die umstehenden Zeugen sich nachträglich haben ermitteln lassen, und selbst wenn einige davon bereits unmittelbar nach Einchecken am Schalter außer Landes geflogen sein sollten, bevor die Polizei zum Schluß kam, daß es sich um einen Anschlag handelte, so kannte man ja deren Identitäten und konnte sie nach Ankunft am Zielflughafen im Wege der Amtshilfe befragen (lassen). Zudem haben wahrscheinlich die Schalterbediensteten an diesem und den benachbarten Check-In-Schaltern den aufsehenerregenden Ablauf beobachtet und diese waren ja auch später, als nach dem Tod von Kim Jong Nam der Verdacht auf ein Delikt (statt eines Scherzes) zur Gewißheit wurde, als Zeug(inn)en erreichbar.
e) Im weiteren Verlauf des Videos sieht man dann, wie der Angegriffene sich dann nahebeistehenden Polizisten anvertraut und dabei das Geschehen mimisch nachvollzieht und
f) wie diese ihn dann zum Flughafen-Sanitätsraum begleiten. Dort sind die Symptome wohl so schwer geworden, daß die Überführung in eine Klinik angeordnet wurde, wobei Kim Jong Nam auf dem Wege dorthin verstorben sein soll, und zwar eben an VX-typischen Vergiftungs-/Erstickungssymptomen.
g) Der Ablauf des Attentats wurde dann anhand der Beschreibungen des Opfers und vermutlich der Zeug(inn)en eruiert und in dieser Videosequenz dargestellt.
Der geplante und der unabsichtlich vertauschte Hergang des Attentats
Wie schon erwähnt, VX ist ein sog. binärer Kampfstoff, er kann also unmittelbar vor dem Angriff oder Attentat aus zwei je für sich genommen ungiftigen Ausgangssubstanzen ohne weitere Labor-Hilfsmittel hergestellt werden.
Dies muß nicht in einer Kampfstoff-Granate erfolgen, man könnte es auch in einem Trinkglas anrühren, mit ungefähr demselben Ergebnis.
Da beide Substanzen für sich genommen relativ harmlos sind, darf man also nur nicht mit dem Endprodukt in Berührung kommen.
Will man nun VX direkt auf der Haut eines Opfers 'herstellen', so muß man sie nacheinander mit beiden Substanzen "einreiben". Das würde bedeuten, daß derjenige, der/die die zweite Substanz aufträgt, selbst tödlich gefährdet wäre. Wie nun kann man diese Gefahr verringern? Indem man nur die erste der beiden Substanzen auf die Haut selbst aufträgt, die zweite Substanz aber aus der Entfernung aufsprüht. Und genau das war so geplant und wurde auch so durchgeführt, nur klappte es nicht so ganz mit der Reihenfolge, d.h. die Täterin mit der Spraydose hätte zuletzt zum Zuge kommen sollen. Vermutlich war in der Menschenmenge und weil das Opfer bereits mißtrauisch zu werden begann (immerhin rechnete er als nordkoreanischer Exilant grundsätzlich mit Anschlägen!) die Reihenfolge nicht einzuhalten und die Frau mit der Spraydose kam zuerst zum Zuge, was das Opfer vermutlich dann auch soweit ablenkte, daß die zweite dann ungehindert die Tat vollenden konnte. Sicher ist es einfacher, erst zu sprühen, so daß das Opfer die Augen schließt und dann sich mit Händen dessen Gesicht zu nähern, während ansonsten jeder Mensch schon aus Instinkt die Arme vors Gesicht hebt, um die Annäherung durch eine wildfremde Person zu verhindern.
Da die beiden Täterinnen ja im Glauben gelassen wurden, es handle sich um einen Streich für eine Reality-TV-Show (für 90 Dollar Honorar) und beides seien harmlose Substanzen, werden sie dem Lapsus wenig Bedeutung beigemessen haben. Mit Sicherheit waren sie nicht über die Gefahren aufgeklärt, sonst wären sie nicht so 'beherzt' vorgegangen - genau das mußte ja gesichert sein, sollte der Anschlag gelingen; für den vermutlichen Geheimdienst waren sie 'expendables' und wären sie beim Anschlag selbst gestorben, wären gleichzeitig zwei Zeugen weniger auf der Welt gewesen.
Was war nun in der Sprühflasche? Vermutlich O-Ethyl-O-2-diisopropylaminoethylmethyl-phosphonit. Was hatte die andere Attentäterin an ihren Händen? Vermutlich Schwefelblüte. Die erstere Substanz fällt unter das Kriegswaffenkontrollgesetz, was seinerseits für einen staatlichen Akteur hinter dem Anschlag spricht, auch wenn jeder Chemiker natürlich irgendwie aus anderen Grundstoffen in der Lage wäre, diese Komponente herzustellen. Schließlich war auch die friedliebende Schweiz interessiert an chemischen Kampfstoffen, nachdem sie sich zur Neutralität entschlossen hatte, und baute darum auch eine friedliche atomare Infrastruktur auf, darin der Bundesrepublik Deutschland nicht unähnlich. An den letzten Vorräten zehren wir ja heute noch, schließlich war Deutschland hier Vorreiter, auch, was den Zivilschutz angeht, inklusive Exporten.
Aus dem genannten Grund hatte nun die zweite Attentäterin auch VX-Vergiftungssymptome, denn sie hat auch auf ihren Händen die beiden Ausgangsstoffe vermischt - allerdings gingen beide, vermutlich entsprechend instruiert, schnurstracks in Waschräume und entfernten die Substanzen. Da die Schicht Schwefel vermutlich dicker war, als nötig, dürfte die Attentäterin Glück im Unglück gehabt haben, insofern das VX nur auf der hautabgewandten Seite der Schwefelschicht sich synthetisierte und sie daher eine Weile geschützt war, bis sie es rechtzeitig abwaschen konnte. Vermutlich hat sie sogar erst beim Abwaschen VX auf ihre Handrücken appliziert und erst dadurch die größere Menge über die Haut aufgenommen.
Der Unterschied dürfte daher gewesen sein,
- daß Kim Jong Nam mehr von der Sprühsubstanz abbekam, als die zweite, verspätete, Attentäterin, die sie nur teilweise wieder von seinem Gesicht abstreifte,
- daß sie sich im Unterschied zu ihm das Gemisch sofort gründlich abwusch (insbesondere in basischer Umgebung wird VX, sonst tagelang haltbar, zersetzt - und Kernseife z.B. ist basisch - aber auch synthetische Seifen und Wasser setzen ihm sicherlich genügend zu)
und
- last not least hatte das Opfer VX im Gesicht, d.h. in der Nähe verschiedenster Nervenzentren (VX ist ein Nervengift) und in der Nähe des Gehirns und zudem 'unter der Nase', d.h. er konnte es einatmen (allerdings hat es bei Körpertemperatur einen sehr geringen Dampfdruck, es verdunstet also nicht leicht). Eingeamtet jedoch ist das VX noch ungefähr zehnmal wirksamer.
Diese Gründe in der Zusammenschau reichen aus, das Überleben der Attentäterin zu ermöglichen, obwohl das Opfer sicher getötet wurde.
Dieses also ist der wahrscheinlichste Hergang, sofern, wovon auszugehen ist, die Anfangsannahme, es habe sich beim Gift um (binäres) VX gehandelt, zutrifft. In Kenntnis der Wirkmechanismen läßt sich der Rest zwingend erschließen, ebenso, wie man annehmen darf, daß ein Buch, das zwei einander zugewandte vergilbte Buchseiten aufweist, lange genau an dieser Stelle aufgeschlagen dem Licht ausgesetzt war. Öffnet es sich dann 'bereitwillig' an genau dieser Stelle leichter, als an allen andern Stellen, so erhärtet das die These weiter bis zur Gewißheit (typisches Bibliographenbeispiel).
Daraus lernen wir: laß' Dir bei einem flotten Dreier nie von zwei Damen gleichzeitig das Gesicht liebkosen - teile sie auf entsprechende Stellen auf. Auch dies basiert rein auf Literaturstudien.
Siehe auch:
- Untergrundkrieg: Der Anschlag von Tokyo
- Offizier im Chemischen Dienst der NVA: Eine etwas andere Lebensbetrachtung
- Lexikon biologischer und chemischer Kampfstoffe: Und der Erreger von Tier- und Pflanzenkrankheiten, die als Kampfstoff nutzbar sind
Sowie verwandte Themen:
- Arzneimittel-Neben- und Wechselwirkungen
- Dekubitus-Behandlung/-Pflege
--
Literatur-/Produkthinweise. Alle Angaben ohne Gewähr! - Leserzuschriften