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Real-Enzyklopädie (26): Kapitalismus, Marktwirtschaft etc. - Klärungsversuch

Geschrieben von dottore am 03. Januar 2002 18:12:08


Hi,

als jemand, der ein dickes Buch zum Thema KAPITALISMUS geschrieben hat (ich hoffe, noch ein paar Exx. aufzutreiben und werde sie dann gern verteilen, bitte Geduld), darf ich mir erlauben, etwas zur Klärung zu versuchen.

1. Kapital. Name von "caput" (lat. = Hauptgut). Es muss also etwas "vorhanden" sein, mit dessen Hilfe man Geschäfte treiben kann. Dies muss - zwingend! - im Eigentum des/der Betreffenden liegen (Einzelfirma, Gesellschaft), da es sonst Sachleihe ist oder gleich ein schuldrechtlicher Vorgang.

2. Das Kapital muss im Geschäft eingesetzt, d.h. riskiert werden. Kapitalismus ohne Risiko das Kapital zu verlieren, ist nicht definierbar.

3. Das Kapital kann selbst zum Tausch/Verkauf angeboten werden oder es kann dazu dienen, zusätzliche Waren zu produzieren, die auf Märkten erscheinen müssen. Kapitalismus als Selbstzweck (ich baue mir ein immer größeres Haus) ist keiner.

4. Das Kapital musss nicht, wird aber in der Regel "bemannt". Dazu bedarf es des freien Lohnarbeiters. Hörige, Leibeigene, Hintersassen usw. kommen im Kapitalismus nicht vor; dieses System ist der sog. "Feudalismus".

5. Der freie Lohnarbeiter ist eine historische Erscheinung. Es gab ihn in Ansätzen in der Antike (meist Tagelöhner), die ansonsten mit Sklaven arbeitete, was auch Kapitalismus ist, wobei die Entlohnung des Sklaven nichts anderes war als die Zurverfügungstellung von Subsistenzmitteln, um ihn zu erhalten. Sklaven waren teuer. In Krisenzeiten wurden Sklaven auch in der Antike frei gelassen, weil sie ihrem Eigentümer buchstäblich zu teuer waren.

6. In volle Erscheinung trat der mit freien Lohnarbeitern operierende Kapitalismus im England nach den Lollardenaufständen (13. Jh., siehe Stichworte Wat Tyler usw.). Die bis dahin dem Grundherrn "hörigen" (= gehörenden) Menschen, deren Hörigkeit auf der Tatsache gründete, dass sie auf dem Land des "Herren" lebten, befreiten sich und waren nur noch bereit, gegen Geld zu arbeiten. Damit waren Lohnzahlungen in der Welt. Ähnliche Entwicklungen in Oberitalien und anderswo.

7. Die große Befreiung der Hörigen (Bauern) kam in Deutschland (der Bauernkrieg scheiterte bekanntlich 1525) zu Beginn des 19. Jh. (Stein-Hardenberg'sche Reformen usw.). Die gleichzeitige starke Bevölkerungsvermehrung in ganz Europa (Malthus sah da große Probleme) schuf ein Lohnarbeiterangebot, das nur mit Mühe absorbiert werden konnte. Unternehmer vermehren sich als Unternehmer nicht von selbst. Das ganze 19. Jh. war also ein Buyers Market für den Lohnarbeit nachfragenden Unternehmer. Die entsprechenden Probleme und sozialen "Strömungen", die das begleiteten sind nur allzu bekannt (Babeuf, Sismondi, Proudhon, Marx, Engels, Liebknecht, usw.).

8. Die Zeit des völlig freien Kapitalismus ging in den großen Flächenstaaten rasch zu Ende, schon in den 1890er (!) Jahren erschien ein Buch (suche es noch heraus) mit dem Titel (sinngemäß): Der Sieg des Staatssozialismus in den USA. Die allerletzte Bastion des freien Kapitalismus ist heute noch Hongkong, aber ebenfalls mit staatsinterventionistischen Tendenzen.

9. Dennoch wurde das 19. Jh. die große Zeit des freien Kapitalisten, eine der imposantesten Figuren wurde August Thyssen (Start bei null, Ende als Multimillionär), der auch schon erkannt hatte, dass Arbeiter umso optimaler arbeiten (für den Kapitalisten also gewinnbringend), je mehr Sicherheit ihnen der Kapitalist bietet. Thyssen hat nie einen Mann entlassen, auch als die Geschäfte schlecht gingen. Ähnlich Krupp, Zeiss und andere.

10. Im MODELL des freien Kapitalismus herrscht freier Marktzugang. Die freie Marktwirtschaft kann daher immer nur zu vorübergehenden Monopolen (technischer Fortschritt usw.) führen, die rasch abgebaut werden, so dass "Marktwirtschaft" den Kapitalismus letztlich zum Marktmodell des Polypols führt, also der sog. atomistischen Konkurrenz, wo immer nur vorübergehende Sondergewinne gemacht werden können, das Ganze sich aber in einer sich verstetigenden Minimierung der Gewinne (= Unternehmerlohn plus Risikoprämie für das eingesetzte Kapital, siehe oben) einpendelt.

11. Sobald der STAAT auf den Plan tritt, verändert sich das Bild schlagartig. Zunächst perpetuierte der Staat die natürlicherweise immer nur vorübergehenden Monopole durch Interventionen aller Art (Patente bis Schutzzölle). Damit war der freie Kapitalismus bereits erledigt und als dann noch Staatsnachfrage in großem Stil dazu kam (Rüstung!) waren die entsprechenden Unternehmer durch diese Marktverwerfungen (kein Privatmann kauft sich ein Schlachtschiff) im Vorteil. So wurden z.B. die Krupps zu den reichsten Deutschen, ähnliches gilt für Boden(schatz)-Monopole, wie das der oberschlesischen Magnaten oder im Ruhrgebiet. Heute wird das per OPEC z.B. gleich sozusagen staatsdirekt erledigt.

12. Im Laufe der Herausbildung von "modernen" Demokratien verwarf sich das System noch stärker. Denn Demokratie heißt Stimmenkauf und Stimmenkauf bedeutet letztlich immer: Staatsverschuldung.

13. Durch die Staatsverschuldung - inzwischen weltweit bei ca. 25/30 Billionen € liegend - wurde eine scheinbar risikolose Art des Kapitaleinsatzes geschaffen. Die beiden Korrekturfaktoren des freien Kapitalismus (Risiko des Kapitalverlustes und Risiko des Auftauchens neuer Konkurrenten mit entsprechender Gewinnminderung für alle am Markt Beteiligten) sind de facto verschwunden. Selbst bei Großpleiten "hilft" der Staat, indem er letztlich die Rechnung übernimmt oder für sie bürgt (Holzmann, LTU etc.).

14. Da der Staat stetig hochbucht, vermehren sich das entsprechenden Guthaben jener Schicht, die entsprechend investiert und investiert hat.

Die FAZ meldet heute:

"Warmer Regen für Besitzer von Anleihen - Im Januar 24,5 Milliarden Euro Zinszahlungen aus Staatsanleihen"

Dies ist mehr als doppelt (!!) so viel, wie alle deutschen Unternehmen aus dem Geschäftsjahr 2001 an Dividenden ausschütten werden.

15. Aus dem Kapitalismus ist also längst eine Form der risikolosen Staatswirtschaft geworden. Dass die Inhaber der Staatstitel Gläubiger und Schuldner in einer Person sind, stört so lange nicht wie der Staat nicht an diese Titel in Form einer Besteuerung geht oder sie für wertlos erklärt.

16. Das in Staatstiteln "investierte" Kapital steht natürlich dem freien Markt nicht mehr zur Verfügung. Daraus resultiert selbstverständlich eine laufend abnehmende Tendenz zu Realinvestitionen und damit zur Schaffung von Abeitsplätzen. Die Staatsverschuldung ist die Ursache der Dauerarbeitslosigkeit, wie unmittelbar einzusehen ist, wenn man den Weg betrachtet, den das Kapital der Bürger nimmt - weg von risikoreichen Investitionen hin zur sicheren Bundesschuldenverwaltung.

17. Der Staat schafft sich so jenes Proletariat, das - je länger die Übung dauert - umso mehr auf ihn angewiesen ist (vom Kindergeld bis zur Sozialhilfe). Was wiederum den Staat solange stabilisiert, bis er unter seiner, via Zinseszins enteilenden Verschuldung zusammenbricht.

18. Gleichzeitig kommt es zu einer (hier besonders gut und mit Recht anklagend diskutierten) immer rascher wachsenden Ungleichheit der Vermögens- und damit letztlich der Einkommensverteilung. Das ganze gilt selbstverständlich weltweit und intranational ebenso wie national.

19. Diese Ungleichheit hat weder mit Kapitalismus noch mit Marktwirtschaft etwas zu tun. Sie ist vielmehr die Ausgeburt der längst außer Kontrolle geratenen Staatsverschuldung. Dieser Zustand strebt mit mathematischer Präzision seinem Ende zu: Dem Aufstand der Armen (= Nicht-Forderungsinhaber) gegen die Reichen (= Forderungsinhaber, deren Forderungen letztlich in immer größerem Umfang Staatstitel sind, siehe FAZ).

20. Der noch in Resten vorhandene freie Kapitalismus (eine seiner letzten Spielwiesen war das Internet) wird schließlich völlig von der Staatswirtschaft aufgesogen, worüber schon der jetzt erreichte Staatsanteil an den BIPs der großen Industrienationen Auskunft gibt (BRD: knapp um die 50 %).

21. Der Kapitalismus ist also längst keiner mehr und das Gehabe mit mehr "freiem Handel" (WTO, Globalisierung) ist nichts als ein Lendenschurz, der alsbald in flächendeckenden Aufständen mit und ohne weltweitem Terrorismus fallen wird.

22. Die Weltgeschichte ist immer Machtgeschichte. Das Macht- und Gewaltmonopol des Staates wird - die Mißbräuche sind jeden Tag aufs Neue zu bestaunen (siehe USA, hier breitest diskutiert) - enden wie alle Monopole:

Es wird in einer großen, weltumfassenden Revolution verschwinden.

Als Zeitrahmen können wir uns auf die nächsten zehn Jahre einrichten. Es würde mich wundern, wenn es länger dauern sollte, bis wir am Ende der Fahnenstange angekommen sind.

Mit dieser Meinung grüßend

d.