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‚TIT FOR TAT’, Sesshafte Sammler & Jäger, Vorräte und das Ende der Reziprozität |
Geschrieben von Popeye am 08. September 2004 09:36:13 Im Nachgang zu meinem Beitrag Großhirnrinde, Reziprozität und soziale Gruppengröße habe ich mich noch mal ein wenig umgeschaut was andere Fachbereiche zu dem Thema Reziprozität und Gruppengröße zu sagen haben. Literaturangaben am Ende dieses Beitrages. Beginnen wir mit den Biologen, weil die immer schon ein Problem hatten den Darwinismus - speziell den ‚selbstsüchtigen’ Prozess der natürlichen Auslese – mit den ebenso offensichtlichen Beispielen altruistischen Verhaltens bei vielen Lebewesen in Einklang zu bringen. (Altruistisches Verhalten in diesem Zusammenhang ist keine moralische Kategorie wie etwa „Du sollst Deinen Nächsten lieben wie Dich selbst“, sondern eine utilitaristische Kategorie, die auf den „Nutzen“ der Betroffenen abstellt.) Nachdem das Thema schon einige Jahrzehnte vorher immer wieder aufgegriffen wurde, kam 1971 mit einem Aufsatz von Robert Trivers richtig Bewegung in die Diskussion. ‚The Evolution of Reciprocal Altruism’ heißt der Aufsatz, der neben einigen biologischen Beispielen vor allem die Vorraussetzungen aufzählt, unter denen sich reziproker Altruismus in biologischen Arten entwickeln kann. Trivers zählt u.a. hierzu - eine lange Lebensdauer, (length of lifeftime), die gewährleistet, dass jedes Individuum die Möglichkeit hat viele altruistische Situationen zu erfahren - geringe Verteilungsdichte der Individuen (dispersal rate), die ebenfalls die Gewähr dafür bietet, dass Individuen in ihrer Lebenszeit häufig mit den gleichen Nachbarn interagieren - Grad der wechselseitigen Abhängigkeit (mutual dependence), z.B. bei der Warnung vor Gefahren, der Futterbeschaffung, der Pflege und Brutpflege etc. - Als der Entwicklung von reziprokem Altruismus besonders schädlich stuft Trivers das Bestehen einer dominanten hierarchischen Struktur (dominant hierarchy) innerhalb einer Gruppe ein. Als Begründung nennt Trivers die Wahrscheinlichkeit, dass in solche Verhältnissen der dominante Teil der Gruppe nicht auf reziproken Altruismus angewiesen ist, weil die Dominanz gewährleistet, dass sie sich nimmt, was sie will. Trivers erwähnt aber, dass selbst beim Vorliegen dominanter Strukturen Hilfe bei Kämpfen (aid in combat von untergeordneten Individuen oder der gesamten Gruppe nicht ausgeschlossen ist – z.B. beim Angriff von Raubtieren. Trivers führt dann das sog. Gefangenendilemma ein, um die individuellen Abwägungen bei der Entwicklungen von reziprokem Altruismus zu verdeutlichen. Dies ist hier im Forum schon oft erwähnt worden und kann in dem obigen Link nochmals nachvollzogen werden. Trivers erinnert nun daran, dass das Gefangenendilemma bei einmaligem Spiel eine dominante Strategie(=Nash Gleichgewicht (*), hier nicht pareto-effizient) hat, die nicht zur Entwicklung von reziprokem Altruismus führen kann. Wie schon in der Aufzählung der Voraussetzungen (s. o.) angedeutet ist dafür der häufige Kontakt bzw. die häufige Chance reziproken Altruismus individuell zu erfahren erforderlich. Wieder wird auch in diesem Argument die Bedeutung der Gruppengröße deutlich. Die Spieltheoretiker haben nun ausgeknobelt, dass es auch bei einer Vielzahl von Spielen, deren Anzahl allerdings von vorne herein feststeht beim gleichen Ergebnis bleibt. Die in diesem Fall dominante Strategie der beiden Spieler kann logisch nicht in reziproken Altruismus übergehen. Erst wenn die Anzahl der Spiele – in unserem Thema also die Anzahl der Kontakte – unbestimmt bzw. nach oben offen ist, besteht die Chance, dass sich reziproker Altruismus entwickelt. Dieses Thema haben nun Axelrod und Hamilton 1981 in dem gemeinsamen Science-Aufsatz ‚The Evolution of Cooperation’ aufgegriffen und zu einer überraschenden Lösung geführt. Axelrod und Hamilton waren an der Frage interessiert mit welcher Spielstrategie sich reziproker Altruismus entwickeln würde, wenn das Gefangendilemma wiederholt, ohne feststehende Anzahl der Durchgänge gespielt wurde. Zu diesem Zweck luden sie eine Reihe von Wissenschaftlern und Studenten ein, Computerprogramme zu schreiben, die in zwei Turnier im Wettbewerb gegeneinander gespielt und getestet werden. Die Überraschung war sehr groß: Die simpelste Strategie erwies sich allen anderen überlegen. Vorgelegt wurde die Strategie von dem in Russland geborenen Biologen und Mathematiker Anatol Rapoport(damals aus Wien). Das Programm bzw. die Strategie, die Rapoport vorschlug, erhielt den Namen TIT FOR TAT (Slang für ‚this for that’ oder übertragen ‚wie Du mir – so ich Dir’). Wie sah die Spielstrategie aus? Beim ersten Spielzug wurde mit dem Gegenüber kooperiert. In allen weiteren Durchgängen wurde der letzte Zug des anderen Spielers schlicht kopiert. Nach über 3 Millionen Spielzügen im zweiten Turnier (62 Programme aus 23 Ländern) stand erneut fest – TIT FOR TAT war die überlegene Strategie, die beide Spieler besser stellte (höchster pay-off) als jede andere Strategie. In den Worten von Axelrod/Hamilton war diese Lösung robust, stabil und auch in einem Umfeld gültig, dass vornehmlich aus nicht kooperativen Strategien besteht – im Fall des Gefangenendilemmas z. B. das sog. Nash-Gleichgewicht mit permanenter Nicht-Kooperation (s.o). Inzwischen ist die Literatur zu diesem Thema unüberschaubar geworden und das Thema wurde bezüglich vieler Einzelfälle, Erweiterungen und wirklichkeitsnäheren Regeln analysiert und beschrieben. Wer sich dafür interessiert kann als Einstieg die unten genannte Literatur verwenden. Hier bleibt zunächst festzuhalten, dass die extrem simple Strategie von TIT FOR TAT eine experimentell belastbare Erklärung für das Entstehen von reziprokem Altruismus in überschaubaren Gruppen bietet. Mich persönlich fasziniert es, dass ein Modell mit so simplen Voraussetzungen und Regeln zumindest das soziale Zusammenleben der biologische Gattung homo seit vielen Millionen Jahren reguliert – bis vor ca. 10-12.000 Jahren. Warum? Was waren die Gründe? Warum wurde das Prinzip des reziproken Altruismus in den Bereich der Familie/Freunden zurückgedrängt? Die Literatur zu diesem Thema lässt sich kaum noch in Regalmetern messen, aber eine wirkliche Antwort auf die Frage ist jedoch noch nicht gefunden. Zu vielfältig sind die möglichen Einflüsse und Ursachen, zu komplex die möglichen Zusammenhänge. Darüber hinaus sind die Spuren von dem was vor 12.000 Jahren begann nicht mehr lesbar, bestenfalls vage interpretierbar und das je nach Weltsicht. Auch @dottores Modell setzt ja erst zu einem Zeitpunkt ein als die Wandlung vom egalitären und reziproken Sozialgefüge zum hierarchischen Modell de facto abgeschlossen war. Die üblichen Verdächtigen, die für diesen sozialen Wandel ursächlich waren sind Klimaveränderungen nach dem Ende der Eiszeit, zunehmende Bevölkerungsdichte, Übergang zur landwirtschaftlichen Produktion und Sesshaftigkeit, Wettbewerb um fruchtbare Landstriche (auch im Gefolge des Anstiegs des Meeresspiegels) oder der Wettbewerb zwischen Hirten und Bauern u.v.a.m. Alle diese potentiellen Einflussfaktoren erklären aber nicht wirklich die Entwicklung innerhalb der sozialen Einheiten hin zu einer hierarchischen Struktur. Da ist natürlich der Bereich von Religion und Magie der strukturelle Änderungen verursachen kann, aber letztlich läuft Religion alleine als Erklärungsmuster immer auf die Stalin’sche Frage zu: Wie viele Divisionen hat der Papst? Im Jahr 1982 hat der französische Anthropologe Alain Testart einen Aufsatz unter dem Titel: ’ The significance of food storage among hunter-gatherers: Residence patterns, population densities, and social inequalities’ geschrieben, der weitläufig zitiert und diskutiert wurde. Ums kurz zu machen: Testart sieht das Anlegen von Vorräten innerhalb Gruppen reziproker Altruisten als eine notwendige Bedingung für die Entstehung hierarchischer Dominanz. Es könnte sein, dass hier tatsächlich eine mehr oder weniger zwangsläufige Ursache für das Entstehen gruppen-interner hierarchischer Strukturen liegt – besonders, wenn man sich den allmählichen Übergang von Sammlern und Jägern zu sesshaften Sammlern und Jägern zu sesshaften Bauern vor Augen führt. Wo immer wir Landwirtschaft finden, muss es logisch diesen Übergang gegeben haben. Der Übergang war unvermeidbar und zwangsläufig und hat sich wahrscheinlich über viele hunderte oder sogar tausend Jahren hingezogen. In vielen Frühkulturen – Mesopotamien, Ägypten, Mykenae, Minoer, Maya, Inka finden wir, dass die Kontrolle über die Vorräte gleichbedeutend mit der Kontrolle über die Menschen ist. Letztlich könnte man heute auch die Funktion der Zentralbank so interpretieren. Wie läuft nun Testarts Argumentation – warum sollte sich durch Vorratshaltung bei sesshaften Sammlern und Jägern das soziale System des reziproken Altruismus ändern? In dem hier diskutierten Zusammenhang sind die folgenden Punkte vielleicht nachdenkenswert: - Vorratshaltung erlaubt und erzwingt die Sesshaftigkeit. Aus dem Produktionszyklus Sammeln, Jagen und unmittelbarer Verzehr wird Sammeln und Jagen – Vorratshaltung - und allmählicher Verbrauch der Vorräte (delayed consumption). Erstmals rückt der Zeitfaktor über die Reichweite der Vorräte nachhaltig ins Zentrum des ‚Wirtschaftens’. - Vorratshaltung erlaubt eine höherer Besiedlungsdichte. In Analogie zum Liebig’schen Minimalgesetz (Freiherr Justus von Liebig, Chemiker, 1803 bis 1873 ) wird das Bevölkerungswachstum durch den limitierenden Nahrungsfaktor in Zeiten schlechten Nahrungsangebotes bestimmt. Durch die gleichmäßige Versorgung aus Lagervorräten entfällt diese Limitierung oder wird zumindest deutlich gemildert. - Die Vergrößerung der Gruppengröße allein vermindert schon die Kontakthäufigkeit zwischen den Gruppenmitgliedern und verringert so die Tendenz zu reziprokem Altruismus in der Gruppe. - Hinzu kommt, dass die reziproke Kontinuität des Teilens während der Nahrungsmittelversorgung aus gemeinsamen oder individuellen Vorräten (meist während der Winter und Frühjahrsmonate) völlig entfällt. So entstehen möglicherweise hinsichtlich individueller Vorräte eigentumsähnliche Besitzansprüche wohingegen bei kollektiver Vorratshaltung eigentumsähnliche Ansprüche/Erwartungen Einzelner an die Gruppe bzw. die Vorräte entstehen können. - Ausführlich und sehr vorsichtig nimmt Testart in dem Abschnitt ‚socioeconomic inequalities’ zu den potentiellen Auswirkungen der Vorratshaltung Stellung. Aus diesem Abschnitt zitiere ich den letzten Absatz: „Thus all the material, social, ideological, or political prerequisites for the emergence of social inequalities seem to be present in societies with a storing economy. This view does not imply any determinism by the technical and economic basis, since one has to ask why intensive storage is adopted in the first place, and I have briefly mentioned various factors pertaining to the ideology or the nature of the social relations which either slow down or speed up this process. Although I have stressed the importance of technique, it is the pursuit of wealth and the will to increase inequality and exploitation that determines the intensification of food production above basic needs. This determination, however, requires that food first be transformed into lasting goods by adequate preservation techniques. We have paid attention to the material basis inasmuch as it makes possible certain social developments. Only a concrete analysis of specific cases will tell us whether or not these developments actually occur in a given society. This analysis will call for the establishment of the degree of sedentarism and the importance of storage, the examination of the various structures, economic, political, or ideological, and the assessment of the various social forces for the specific society under study. Inequalities can develop only with the separation of privileged social classes from other strata that are disadvantaged, exploited, subjected, or reduced to slavery, the interests of the one being antagonistic to that of the other. It is upon the carrying out of these struggles that the level of social differentiation of a society at a specific point in its history depends.” (S.528) Folgt man den grundsätzlichen Vermutungen von Testart, so wird deutlich, dass sich die soziale Entwicklung der Sammler und Jäger schon lange vor dem Beginn der eigentlichen Landwirtschaft von den Grundsätzen der Reziprozität und Egalität gelöst haben könnte, um vermehrt hierarchischen Organisationsformen Raum zu geben. Gut gefüllte Vorrats-Silos in dieser Phase des Übergangs zur reinen Landwirtschaft mögen häufig Gegenstand von inneren und äußeren Konflikten gewesen sein. Vorräte wurden so - ganz oder teilweise - zu sozialem Reichtum, über den, nach dem Belieben weniger, zur Mehrung von Ansehen und Macht verfügt wurde. Na ja, vielleicht war auch alles ganz anders. Niemand war dabei, die können uns viel erzählen…, aber wenn’s so oder so ähnlich war, dann kamen wir schon gut trainiert ins Paradies der Neolithischen Revolution und hatten unsere Abgabenkörbchen abholbereit…. Sorry, dass es so lang geworden ist – hätte ich mehr Zeit gehabt wär’s kürzer geworden. (*) Nash-Gleichgewicht: Eine gegebene Anzahl von Spielzügen (Alternativen) mit der Eigenschaft, dass kein Spieler von einer Änderung des Spielzuges profitieren kann, wenn der andere Spieler seinen Spielzug unverändert lässt, nennt man Nash-Gleichgewicht. Zitierte Aufsätze: Trivers, Robert L., 1971, The evolution of reciprocal altruism. Quarterly Review of Biology 46:35-57. Axelrod, R. & Hamilton, W. D., 1981, The evolution of cooperation. Science 211:1390-6, Testart, Allain, 1982, The Significance of Food Storage among Hunter Gatherers: Residence Patterns, Population Densities, and Social Inequalities. Current Anthropology 23: 523-537. Außer Konkurrenz: Testart, Alain, 2002, Aux origines de la monnaie Weiterführende Literatur : Axelrod, Robert, 2000, Die Evolution der Kooperation Trivers, Robert L., 2002, Natural Selection and Social Theory: Selected Papers of Robert L. Trivers Wuketits, Franz M., 1997, Soziobiologie Als besonders eindrucksvolles empirisches Beispiel über die Transformation einer egalitären Gesellschaft empfehle ich den Aufsatz von Wiessner, Polly, Feb. 2002, The Vines of Complexity, Current Anthropology, 43: 233-269 Und das Internet ist wie immer voll mit guten, mäßigen und schlechten Beiträgen zu den angesprochenen Themen und Unterthemen. |