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Großhirnrinde, Reziprozität und soziale Gruppengröße

Geschrieben von Popeye am 28. August 2004 18:07:05


In einer Aufsehen erregenden Aufsatzserie haben Leslie Aiello( University College, London.) und Robin Dunbar(University of Liverpool) Anfang der neunziger Jahre ein Thema aufgegriffen, das noch immer nicht zu Ende diskutiert ist: Den Zusammenhang zwischen dem Entwicklungstand unserer Großhirnrinde (Neocortex) und der maximalen sozialen Gruppegröße.

Die Großhirnrinde ist entwicklungsgeschichtlich der letzte Teil des Hirns, der sich entwickelt hat. (Manche Forscher vermuten hier den Sitz unseres Bewusstseins.) Aiello/Dunbar kommen zu dem Ergebnis, dass die maximale Gruppengröße (predicted group size for humans) bei 147,8 – also knapp unter 150 Personen liegt. Es versteht sich von selbst, dass diese maximale Gruppengröße durch die jeweiligen Umweltbedingungen getragen werden müssen, sonst bilden sich entsprechend kleiner Gruppen. Bestehen umweltmäßig optimale Bedingungen beschränkt jedoch das Verhältnis von Neocortex zu gesamtem Gehirnvolumen die maximale soziale Gruppengröße.

Aiello/Dunbar argumentieren, dass die Großhirnrinde die Anzahl der dauerthaften Sozialkontakte limitiert (neocortex size sets a limit on the number of relationships that it can maintain through time) – und geben dafür eine Reihe von Beispielen in der Tierwelt ebenso wie Beispiele aus unserer Frühgeschichte und anderen Bereichen.

Bei ca. 150 Gruppenmitgliedern müssten rund 42 Prozent der zur Verfügung stehenden Zeit darauf verwendet werden durch freundlichen Klatsch und Tratsch (social grooming, social bonding) den sozialen Zusammenhalt der Gruppe zu festigen. Bei 200 Mitgliedern der Gruppe wären es bereits 56 Prozent des täglichen Zeitbudgets das auf „social grooming“ verwendet werden muss um den Zusammenhalt der Gruppe zu stabilisieren. Unschwer einzusehen, dass soviel Zeitaufwand für notwendige Sozialkontakte irgendwann die Subsistenz der Gruppe gefährdet.

Aiello/Dunbar glauben nun,dass dieser kritische Punkt, bei dem das social grooming/social bonding der Gruppe mehr als 25-30 Prozent des Zeitbudgets in Anspruch nahm, auch der Zeitpunkt war, an dem sich Sprache bei unseren Vorfahren entwickelte. Das Werkzeug Sprache hat dann wieder den sozial notwendigen Zeitaufwand für den sozialen Kitt der Gruppe deutlich gesenkt (vocal grooming), weil über die Sprache gleichzeitig mehrere Gruppenmitglieder angesprochen und Informationen effektiver ausgetauscht werden konnten. Alles mehr oder weniger nachzulesen hier (Aufsatz ist aus dem Jahr 2001).

Die ökonomische Entsprechung dieses Denkansatzes zur Gruppengröße des homo sapiens sapiens greifen wir wieder auf bei Mancur Olson in seinem Aufsatz „Dictatorship, Democracy, and Development“ (1993), vor allem aber in seinem Buch „Die Logik des kollektiven Handelns“, Tübingen 1968 [engl. EA 1965] das diesen ökonomischen Aspekt der Gruppengröße ausgiebig erörtert. Dabei soll nicht verschwiegen werden, dass David Hume dieses Thema schon vollständig erkannt hatte:

David Hume schreibt: „Es können wohl zwei Nachbarn sich vereinigen, um eine Wiese zu bewässern, die ihnen gehört. Für diese ist es leicht, sich wechselseitig zu kennen und jeder sieht unmittelbar, wenn er seinen Teil der Arbeit ungetan läßt, so bedeutet dies die Vereitelung des ganzen Unternehmens. Dagegen ist es sehr schwer, ja unmöglich, daß tausend Personen in solcher Weise zu einer Handlung sich vereinigen.“ (Traktakt über die menschliche Natur, Hamburg u. Leipzig, 1906, S. 208)

Warum ist das so? Mit anderen Worten: Wo ist die ökonomische Grenze unserer freiwilligen Zusammenarbeit zum Nutzen der Gruppe – also jenes wirtschaftlichen Prinzips, dass uns ermöglichte die ersten 100 – 150.000 Jahre unserer Entwicklungsgeschichte zu meistern? In der Sprache des Ökonomen formuliert Olson (1965, S. 29) „Die Grenzkosten zusätzlicher Einheiten des Kollektivgutes müssen in der selben Weise aufgeteilt werden wie der zusätzliche Nutzen.“

Im Beispiel von Hume weiter oben bedeutet dies, wenn jeder der beiden Nachbarn den gleichen zusätzlichen Aufwand betreiben muss und auch den gleichen zusätzlichen Nutzen durch die Bewässerung der Wiese hat, dann funktioniert die Zusammenarbeit.

Nun muss man die Worte Olsons nicht auf die Waagschale legen, weil es – besonders in kleinen Gruppen – noch andere psychologische Mechnismen gibt, aber das ökonomische Prinzip ist klar: Wenn ich heute keinen Jagderfolg habe teilst Du Deine Beute mit mir; hast Du keinen Jagderfolg morgen, machen wir es umgekehrt.

Aber dieses Reziprozität genannte Prinzip hat seine Grenzen in der Größe der Gruppe und in der individuellen Kosten- Nutzenerwägung. Gehen wir wieder zu Humes Beispiel. Warum würde es bei 1000 Gruppenmitgliedern freiwillig nicht funktionieren? Jedes Gruppenmitglied hätte nun 1/1000 des Aufwandes zu betreiben und 1/1000 des Nutzens aus der Bewässerung der Wiese zu erwarten. Es ist unmittelbar einzusehen, dass für den Einzelnen dieser Nutzen nicht hinreichen mag diesen Aufwand zu betreiben, wenn er nur 1/1000 des Nutzens ernten kann. Er geht deshalb lieber jagen. Oder noch schlimmer, er sagt sich, ob nun 999 oder 1.000 dort arbeiten fällt nicht auf – ich leg mich auf’s Ohr und schlafe. Grenzkosten und Grenznutzen sind nicht mehr identisch. Die Gruppe fällt so allmählich auseinander.

Die Sehnsuchts-Parole: „Einer für alle – alle für einen“ - hat also ihre Grenzen in unserem Gehirn. Wir können nur eine bestimmte Anzahl von Sozialkontakten intensiv pflegen und wir können rechnen oder zumindest kalkulatorische Wenn-Dann Überlegungen anstellen. Sind diese Grenzen erreicht geht’s gemeinsam nur noch mit Zwang.