Chinas 'All-Sehendes' Auge
Mithilfe amerikanischer Rüstungsunternehmen baut China den Prototyp eines Hightech-Polizeistaats. Alles ist bereit für den Export.
14. Mai 2008
Von Naomi Klein
Vor dreißig Jahren gab es die Stadt Shenzhen noch gar nicht. Damals war sie nur eine Aneinanderreihung von kleinen Fischerdörfern und kollektiv bewirtschafteten Reisfeldern, ein Ort mit zerfurchten Feldwegen und traditionellen Tempeln. Das war, bevor die Kommunistische Partei es - dank seiner Lage in der Nähe des Hafens von Hongkong - zur ersten „Sonderwirtschaftszone“ Chinas auswählte, einem von nur vier Gebieten, in denen der Kapitalismus versuchsweise zugelassen werden sollte. Die Theorie hinter dem Experiment war, dass das „echte“ China seine sozialistische Seele bewahren und gleichzeitig von den in Shenzhen geschaffenen Arbeitsplätzen im privaten Sektor und der industriellen Entwicklung profitieren würde. Das Ergebnis ist eine Stadt des reinen Handels, unverfälscht durch Geschichte oder verwurzelte Kultur - das Crack-Kokain des Kapitalismus. Diese Kraft machte die Investoren so süchtig, dass sich das Shenzhen-Experiment schnell ausweitete und nicht nur das umliegende Perlflussdelta, in dem heute rund 100.000 Fabriken angesiedelt sind, sondern auch weite Teile des übrigen Landes erfasste. Heute ist Shenzhen eine Stadt mit 12,4 Millionen Einwohnern, und die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass mindestens die Hälfte von allem, was Sie besitzen, hier hergestellt wurde: iPods, Laptops, Turnschuhe, Flachbildfernseher, Smartphones, Jeans, vielleicht Ihr Schreibtischstuhl, möglicherweise Ihr Auto und ziemlich sicher Ihr Drucker. Hunderte von luxuriösen Eigentumswohnungen überragen die Stadt; viele sind mehr als 40 Stockwerke hoch, gekrönt von dreistöckigen Penthäusern. Neuere Stadtteile wie Keji Yuan sind voll von protzig-modernen Firmengeländen und dekadenten Einkaufszentren. Rem Koolhaas, Pradas Lieblingsarchitekt, baut in Shenzhen eine Börse, die zu schweben scheint - ein Design, das, wie er sagt, „den Prozess des Marktes suggerieren und illustrieren“ soll. Eine noch im Bau befindliche super-leichte U-Bahn wird bald alles mit Hochgeschwindigkeit verbinden; jedes Fahrzeug verfügt über mehrere Fernsehbildschirme, die über ein Wi-Fi-Netzwerk übertragen. Nachts leuchtet die ganze Stadt wie ein aufgemotzter Hummer, wobei jedes Fünf-Sterne-Hotel und jeder Büroturm darum wetteifert, wer die beste Lichtshow auf die Beine stellen kann.
Viele der großen amerikanischen Unternehmen haben sich in Shenzhen niedergelassen, aber im Vergleich zu ihren chinesischen Konkurrenten wirken sie ausgesprochen unscheinbar. Der Forschungskomplex des chinesischen Telekommunikationsriesen Huawei zum Beispiel ist so groß, dass er eine eigene Autobahnausfahrt hat, während die Mitarbeiter mit einer eigenen Buslinie nach Hause fahren. Gegen die Disco-Einkaufszentren von Shenzhen wirken die Wal-Mart-Supermärkte - von denen es neun in der Stadt gibt - wie triste Eckläden. (China scheint uns fast zu verhöhnen: „Das nennt ihr einen Superstore?“) McDonalds und KFC tauchen alle paar Blocks auf, aber neben der Fast-Food-Kette Real Kung Fu, deren Maskottchen ein stilisierter Bruce Lee ist, wirken sie fast retro.
Amerikanische Kommentatoren wie Jack Cafferty von CNN bezeichnen die Chinesen als „dieselbe Bande von Schlägern, die sie in den letzten 50 Jahren gewesen sind“. Aber niemand hat es den Menschen in Shenzhen gesagt, die fleißig eine 24-Stunden-Show namens „Amerika“ auf die Beine stellen - eine Raubkopie des Originals, nur mit schickerem Design, höheren Gewinnen und weniger Beschwerden. Dies ist nicht zufällig geschehen. Das heutige China, verkörpert durch Shenzhen, das sich innerhalb von 30 Jahren von einer Schlamm- zu einer Megastadt entwickelt hat, steht für eine neue Art, die Gesellschaft zu organisiert zu manipulieren. Gelegentlich als „Marktstalinismus“ bezeichnet, handelt es sich dabei um eine potente Mischung aus den mächtigsten politischen Instrumenten des autoritären Kommunismus - zentrale Planung, gnadenlose Unterdrückung, ständige Überwachung, die genutzt werden, um die Ziele des globalen Kapitalismus voranzutreiben.
Nun, da China sich darauf vorbereitet, seine wirtschaftlichen Fortschritte während der bevorstehenden Olympischen Spiele in Peking zu präsentieren, dient Shenzhen erneut als Labor, als Testgelände für die nächste Phase dieses großen sozialen Experiments. In den letzten zwei Jahren wurden in der ganzen Stadt rund 200.000 Überwachungskameras installiert. Viele befinden sich im öffentlichen Raum, getarnt als Laternenpfähle. Die Überwachungskameras werden bald an ein einziges, landesweites Netzwerk angeschlossen, ein alles sehendes System, das in der Lage sein wird, jeden zu verfolgen und zu identifizieren, der in seine Reichweite kommt - ein Projekt, das zum großen Teil durch US-amerikanische Technologie und Investitionen vorangetrieben wird. Chinesische Sicherheitsexperten sagen voraus, dass sie in den nächsten drei Jahren bis zu 2 Millionen Videoüberwachungsanlagen in Shenzhen installieren werden, was die Stadt zur meist überwachten Stadt der Welt machen würde. (Das sicherheitsbegeisterte London verfügt nur über eine halbe Million Überwachungskameras).
Die Sicherheitskameras sind nur ein Teil eines viel umfassenderen Hightech-Überwachungs- und Zensurprogramms, das in China als „Goldener Schutzschild“ bekannt ist. Ziel ist es, die neueste Technologie zur Personenüberwachung - die von amerikanischen Giganten wie IBM, Honeywell und General Electric geliefert wird - einzusetzen, um einen luftdichten Kokon für die Verbraucher zu schaffen: einen Ort, an dem Visa-Karten, Adidas-Turnschuhe, China-Smartphones, McDonald's Happy Meals, Tsingtao-Bier und UPS-Lieferungen (um nur einige der offiziellen Sponsoren der Olympischen Spiele in Peking zu nennen) unter den Augen des Staates genossen werden können, ohne dass die Gefahr eines demokratischen Ausbruchs besteht. Angesichts der zunehmenden politischen Unruhen in ganz China hofft die Regierung, mithilfe des Überwachungsschildes abweichende Meinungen zu erkennen und zu bekämpfen, bevor sie sich zu einer Massenbewegung ausweiten, wie sie auf dem Platz des Himmlischen Friedens die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit erregte.
Erinnern Sie sich immer daran, wie uns dauernd gesagt wurde, dass freie Märkte und freie Menschen Hand in Hand gehen? Das war eine Lüge. Es hat sich herausgestellt, dass das effizienteste System zur Durchsetzung des Kapitalismus in Wirklichkeit ein Polizeistaat im kommunistischen Stil ist, der mit amerikanischer „Heimatschutz“-Technologie befestigt und mit „Krieg-gegen-Terror“-Rhetorik aufgepumpt wird. Und die globalen Konzerne, die derzeit Superprofite aus diesem sozialen Experiment ziehen, werden wohl kaum zufrieden sein, wenn der lukrative neue Markt auf Städte wie Shenzhen beschränkt bleibt. Wie alles, was in China mit amerikanischen Teilen zusammengebaut wird, ist auch der Polizeistaat 2.0 bereit für den Export in eine Nachbarschaft in Ihrer Nähe.
Zhang Yi zeigt auf eine leere Halterung auf dem Armaturenbrett seines schwarzen Honda. „Früher war da mein GPS drin, aber jetzt lasse ich es zu Hause“, sagt er. „Das liegt an der Kriminalität - sie sind zu leicht zu stehlen.“ Schnell fügt er hinzu: „Seit es die Überwachungskameras gibt, ist die Kriminalität in Shenzhen drastisch zurückgegangen.“
Nachdem wir eine Stunde lang an Hunderten von Fabriktoren und Industrieparks vorbeigefahren sind, halten wir vor einem lachsfarbenen Gebäude, das Zhang teilweise gehört. Dies ist der Hauptsitz von FSAN: CCTV System. Zhang, ein typischer Yuppie aus Shenzhen mit königsblauem Button-Down-Hemd und schwarzer Brille, entschuldigt sich für das Chaos. Im Inneren ist jeder Zentimeter des Raums mit Kartons voller Elektronikteile und Fertigprodukte voll gestellt.
Zhang hat die Fabrik vor zweieinhalb Jahren eröffnet, und seine Investition hat sich bereits verzehnfacht. Diese Art von Wachstum ist in dem Bereich, den er gewählt hat, nicht ungewöhnlich: Zhangs Fabrik stellt digitale Überwachungskameras her und produziert 400.000 Stück pro Jahr. Die Hälfte der Kameras wird nach Übersee verschifft, um im Rahmen des weltweiten Booms der „inneren Sicherheit“ von Gebäudesimsen in London, Manhattan und Dubai zu blicken. Die andere Hälfte verbleibt in China, viele davon direkt hier in Shenzhen und im benachbarten Guangzhou, einer weiteren Megastadt mit 12 Millionen Einwohnern. Der chinesische Markt für Überwachungskameras verzeichnete im vergangenen Jahr einen Umsatz von 4,1 Milliarden Dollar, was einem Anstieg von 24 Prozent gegenüber 2006 entspricht.
Zhang begleitet mich zum Fließband, wo sich Reihen junger Arbeiter, die meisten von ihnen Frauen, über Halbleiter, Platinen, winzige Kabel und Glühbirnen beugen. Am Ende jeder Linie steht die „Qualitätskontrolle“, die darin besteht, die Kamera an einen Monitor anzuschließen und sicherzustellen, dass sie aufzeichnet. Wir betreten einen Ausstellungsraum, in dem sich Zhang und seine Kollegen mit Kunden treffen. An den Wänden hängen Dutzende von Kameramodellen: Kuppeln in allen Größen, spezialisiert auf Tag und Nacht, nass und trocken, getarnt wie Lampen, getarnt wie Rauchmelder, explosionssicher, in der Größe eines Fußballs, in der Größe einer Ringbox.
Die Mitarbeiter von FSAN stellen nicht nur Überwachungskameras her, sie werden auch ständig von ihnen beobachtet. Während sie arbeiten, erfassen die stillen Augen der rotierenden Objektive jede ihrer Bewegungen. Wenn sie die Arbeit verlassen und in den Bus steigen, werden sie erneut gefilmt. Wenn sie zu ihren Wohnheimen gehen, sind die Straßen von neu installierten Straßenlaternen gesäumt, deren weiße Masten sich zum Bürgersteig hinbiegen und an deren Enden sich schwarze Kuppeln befinden. In den Kuppeln befinden sich hochauflösende Kameras, wie sie auch von den Mitarbeitern der FSAN hergestellt werden. Einige Blöcke haben drei oder vier, alle paar Meter eine. Ein in Shenzhen ansässiges Unternehmen, China Security & Surveillance Technology, hat eine Software entwickelt, mit der die Kameras die Polizei alarmieren können, wenn sich an einem bestimmten Ort eine ungewöhnliche Anzahl von Menschen versammelt.
Im Jahr 2006 ordnete die chinesische Regierung an, dass alle Internetcafés (sowie Restaurants und andere „Vergnügungsstätten“) Videokameras installieren müssen, die direkt mit den örtlichen Polizeistationen verbunden sind. Diese Maßnahme ist Teil eines umfassenderen Überwachungsprojekts, das unter dem Namen „Sichere Städte“ bekannt ist und mittlerweile 660 Gemeinden in China umfasst. Es ist das ehrgeizigste neue Regierungsprogramm im Perlflussdelta, und die Versorgung damit ist einer der am schnellsten wachsenden neuen Märkte in Shenzhen.
Doch die Kameras, die Zhang herstellt, sind nur ein Teil des massiven Experiments zur Bevölkerungskontrolle, das hier im Gange ist. „Das große Ganze“, erklärt mir Zhang in seinem Büro in der Fabrik, 'ist die Integration'. Das bedeutet, dass Kameras mit anderen Formen der Überwachung verknüpft werden: Internet, Telefone, Gesichtserkennungssoftware und GPS-Überwachung.
So wird das Goldene Schild funktionieren: Chinesische Bürger werden rund um die Uhr durch vernetzte CCTV-Kameras und Fernüberwachung von Computern überwacht. Sie werden bei ihren Telefongesprächen abgehört und durch digitale Stimmerkennungstechnologien überwacht. Ihr Internetzugang wird durch das berüchtigte System der Online-Kontrollen des Landes, die sogenannte „Große Firewall“, stark eingeschränkt. Ihre Bewegungen werden durch nationale ID-Karten mit ab-tastbaren Computerchips und Fotos verfolgt, die sofort in Polizeidatenbanken hochgeladen und mit den persönlichen Daten des Inhabers verknüpft werden. Dies ist das wichtigste Element von allen: die Verknüpfung all dieser Instrumente in einer riesigen, durchsuchbaren Datenbank mit Namen, Fotos, Informationen über den Wohnsitz, den beruflichen Werdegang und biometrische Daten. Wenn der Goldene Schutzschild fertig ist, wird in diesen Datenbanken ein Foto von jeder Person in China zu finden sein: 1,3 Milliarden Gesichter.
Shenzhen ist der Ort, an dem der Schild am stärksten befestigt wurde - der Ort, an dem alle Spionagespielzeuge miteinander verbunden und auf ihre Leistungsfähigkeit hin getestet werden. „Die Zentralregierung will irgendwann eine Stadtweite Überwachung einführen, damit sie eine Stadt und ihr Überwachungssystem als Ganzes überwachen kann“, sagt Zhang. „Das alles ist Teil dieses größeren Projekts. Sobald die Tests abgeschlossen sind und sich das System bewährt hat, wird es von der großen Provinz auf die Städte und sogar auf das ländliche Ackerland ausgeweitet.“
In der Tat ist die Einführung des Hightech-Abschirmungssystems bereits in vollem Gange.
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Weiter im Link: https://web.archive.org/web/20080517165412/https://www.rollingstone.com/politics/story/...
Betreff zu Nachricht im Gelbenforum: Falls du mal ...
Hallo Ikonoklast,
... einen Schock brauchst, dann guck mal Video.
Gruß
Plus ein Artikel zum Thema: https://www.thenewatlantis.com/publications/the-population-control-holocaust
Video: https://web.archive.org/web/20221220013708/https://www.youtube.com/watch?v=555lqEol7SU
The dying rooms
Mei-ming has lain this way for 10 days now: tied up in urine-soaked blankets, scabs of dried mucus growing across her eyes, her face shrinking to a skull, malnutrition slowly shrivelling her two-year-old body.
Each morning a fellow inmate at her Guangdong orphanage goes into the dark fetid room where she lies alone to see if she is dead. The orphanage staff, paid to look after her, do not visit. They call her room the 'dying room' and they have abandoned her there for the same reason her parents abandoned her shortly after she was born. Her problem is simple and tragic: she has a condition which in modern China makes her next to useless, a burden on the state with an almost zero chance of adoption. She is a girl.
When she dies in four days later it will not be of some terminal, incurable illness. It will be of sheer neglect. Afterwards the orphanage will dispose of her desiccated corpse and deny she ever existed. She will be just another invisible victim of the collision between China's one-child policy and its traditional preference for male heirs. The name the orphanage gave her articulates precisely the futility of struggle to survive in a society that holds no value for her. In Putonghua, Mei-ming means 'no name'.
She is one of perhaps 15 million female babies who have gone missing from China's demographics since the one child per family policy was introduced in 1979. Another tiny bag of bones in what some sinologists claim is the 20th century's hidden holocaust.
Yet her brief and miserable life may not have been in vain. Before she died she was discovered by a British documentary team who entered her orphanage posing as American charity fund-raisers. The footage they shot, through a concealed camera, would provide the first video evidence of the existence of dying rooms. And when their documentary was shown 13 days ago, against the protestations of China's London embassy, little Mei-ming's dying cries for help were heard around the world.
The aim of the documentary team, funded by Britain's Channel Four, was to explore persistent reports that some state-run Chinese orphanages leave baby girls to die of starvation and neglect. Their starting point was the Sunday Morning Post's award-winning investigation of two years ago which gave the world the first eye-witness and photographic evidence of dying rooms at Nanning orphanage, in Guangxi province. Then the dying room was spoken of openly by staff and regular visitors. It was freely admitted that 90 per cent of the 50 to 60 baby girls who arrived at the orphanage each month would end their lives there. Since the outrage provoked by our report, however, Nanning orphanage has been overhauled. Money raised by Hong Kong celebrities has upgraded facilities and the quality of care. The dying rooms there have ceased to exist.
Link: https://www.scmp.com/article/122196/dying-rooms
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Grüße
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Ich bin und zugleich nicht.
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Prediger einer allumfassenden Häresie