Analyse des tatsächlichen Textes der EU-Beschlüsse vom 20.7.20

Revoluzzer @, Mittwoch, 22.07.2020, 09:57 vor 1346 Tagen 3019 Views

bearbeitet von Revoluzzer, Mittwoch, 22.07.2020, 10:16

Ich habe mir die Mühe gemacht, einmal den tatsächlichen Text der EU-Beschlüsse vom 20.7.20 zumindest im Ansatz durchzuarbeiten. Da die Ergebnisse doch recht interessant sind, mache ich einen eigenen Faden auf, mit der Bitte, hier nur Beiträge anzuschließen, die sich am Originaltext orientieren.

1. Der Deal besteht aus dem Mehrjährigen Etat der EU in Höhe von 1.074 Mrd. Euro und dem zusätzlichen Schuldenfond über 750 Mrd. Euro.

2. Alle Mitgliedsstaaten können so tun, als wären sie Gewinner, da durch die 750 Mrd. neue Schulden (am Rande bemerkt: finanziert durch die EZB per Gelddrucken) fast jeder unmittelbar mehr Geld bekommt, als man einzahlt. Folge ist, dass die Zahlerstaaten "Rabatte" bekommen können und zugleich die "Nehmerstaaten" viele Mrd. Euro mehr bekommen werden.

3. Die Beitragsrabatte für Dänemark, Deutschland, Niederlande usw. sind zeitlich befristet bis 2027 (Artikel 30). Das heißt, die heutige Politikergeneration in diesen Ländern schafft sich hier einen Grund zum Feiern, die nächste wird dafür um so mehr bezahlen müssen. Man darf angesichts dieser Regelung auch vermuten, dass Niederlande & Co nur die "guten Polizisten" in einem "good cop, bad cop"-Spiel waren, dessen Ausgang - für den Zentralstaat EU - bereits vorher feststand.

4. Die Frage der Rückzahlung der neuen Schulden wird sehr geschickt dargestellt (versteckt), so dass auch hier die nationalen Regierungen sich im Moment als Gewinner verkaufen können. Zum einen wird die Schuldenaufnahme durch eine drastische Erhöhung der sogenannten Eigenmittel der EU von derzeit 1,06% auf in Summe bis zu 2,06% des Bruttonationaleinkommens ERMÖGLICHT - zugleich aber nicht gesagt, dass diese Mittel auch abgerufen werden. Die 2,06% werden im übrigen nicht als solche ausgesprochen, sondern verteilt auf 1,46% für den Mehrjährigen Finanzrahmen und 0,6% als - einfach gesprochen - abrufbare Sicherheit für die Schuldenaufnahme. Diese geschickte Darstellung erlaubt den Politikern und bezahlten "Wissenschaftlern" selbst für Deutschland von einem "guten Deal" zu sprechen, da die Frage der Haftung und Rückzahlung (bis 2058!) schwer greifbar ist, während die "Gewinne" in Form von Geld, das aus Brüssel in den nächsten Jahren in die Länder fließen wird, sehr gut greifbar sind.

5. Die Schuldenermächtigung für die EU muss zeitlich und inhaltlich begrenzt werden, damit man nicht allzu offensichtlich die EU-Verträge bricht. Das wird erreicht durch inhaltliches Blabla und dass bis 2058 - 2058 -, also politisch gesprochen in der unendlich weit entfernten Zukunft, die "zeitlich befristete" Sondermaßnahme abgebaut ist. Alle lebenden und aktiven Politiker werden dagegen nur von der "Auszahlungsphase" profitieren. Auch das ist offensichtlich hochgradig verantwortungslos und unmoralisch, aber so läuft das halt in Brüssel.

6. Die Rückzahlung der Schulden soll tatsächlich durch neue, einzuführende EU-Steuern bezahlt werden. Wichtig, Zitat: "In einem ersten Schritt wird eine neue Eigenmittelquelle eingeführt, die auf nicht recycelten Kunststoffabfällen beruhen und ab dem 1. Januar 2021 gelten wird." Die Einführung einer eigenen EU-Steuer - das ist staatsstrukturell für die EU ein rießengroßer Schritt Richtung Zentralstaat - ist beschlossen. Nicht "in Aussicht gestellt" oder sowas, sondern beschlossen. Meines Erachtens ist dieser Beschluss - über den wohlweislich in den Medien praktisch nichts berichtet wird oder wenn, dann verfälschend - der wichtigste des ganzen Dokuments. Es wurde hier ein eigenes Besteuerungsrecht für die EU beschlossen. Dieser Prinzipienwechsel hat unabsehbare Konsequenzen, weit über den MFR und die 750 Mrd. Schulden hinaus.

7. Dann werden noch weitere EU-Steuern angekündigt.

Bei Artikel 30 habe ich dann aufgehört. Würde mich freuen, wenn andere das Dokument weiter / anders untersuchen.

Revo.

Nein, das ist nur ein erster Probegalopp

sensortimecom ⌂ @, Mittwoch, 22.07.2020, 14:39 vor 1345 Tagen @ Revoluzzer 1822 Views

bearbeitet von sensortimecom, Mittwoch, 22.07.2020, 14:46

In Wahrheit geht es um viel mehr. Ein Schelm der glaubt, der Corona-bedingte Wirtschaftsausfall in den südlichen und östlichen EU-Ländern könne mit 750 Milliarden Euro (davon 390 Mrd. geschenkt) kompensiert werden.

Allein Griechenlands Desaster 2015 benötigte 350 Mrd. Euro zur Kompensation. GR hat aber nur 10 Mill. Einwohner und eine viel geringere Finanz und Wirtschaftsleistung als etwa Italien oder Spanien.

Man wollte mal testen, wie die wirtschaftlich noch potenten EU-Länder auf die Situation reagieren. Der eigentliche Showdown kommt erst im Herbst oder Winter.

In Wahrheit kann man grosse Wirtschaftsmächte wie SP oder IT (das sogar zu den G-7 und G-20 zählt, und wo das Privatvermögen sogar viel höher ist als in DE oder AT) gar nicht bail-outen. Es wurde schon in den vergangenen Jahren drüber von seriösen Wirtschaftsexperten zur Genüge geschrieben. Alles Nebelgranaten, vielleicht um Zeit zu gewinnen. Vergesst das.

Das Verschuldungspotential der EU liegt viel höher, und es wird ausgeschöpft

Miesepeter @, Mittwoch, 22.07.2020, 17:07 vor 1345 Tagen @ sensortimecom 1601 Views

bearbeitet von Miesepeter, Mittwoch, 22.07.2020, 17:33

In Wahrheit kann man grosse Wirtschaftsmächte wie SP oder IT (das sogar zu den G-7 und G-20 zählt, und wo das Privatvermögen sogar viel höher ist als in DE oder AT) gar nicht bail-outen.

Da ist ja gut, dass es sich hier auch nicht um einen Bail-out handelt. Bzw es wird nicht ein Land, auch nicht eine Ländergruppe, sondern das System selbst outgebailt.

Das nominale BIP der EU liegt, präziser: lag 2019 ohne UK, bei ungefähr 14 Billionen EUR.
Im Jahr 2020 wird das BIP irgendwo um 10-15% niedriger liegen, geschätzt 1,5 Billionen.

Den Nachfrageausfall und den deflationären Implosionsimpuls versuchen die Regierungen und Notenbanken auszugleichen, dafür werden sie geschätzt mindestens 1,5 Billionen EUR nachfragewirksam in die Wirtschaft pumpen, und zwar kurzfristig.

Darüberhinaus gehen überall in der EU die Steuereinnahmen zurück, setzen wir das mit 10% Rückgang bei 50% (Staatsquote) der Wirtschaftsleistung an, so sind das weitere 500-750 Mrd, mit der sich die Staaten der EU neuverschulden müssen, um den Status Quo aufrechtzuerhalten.

Summa summarum: 2- 2.25 Billionen EUR
Hinzu kommt noch die bereits bestehende jährliche Nettokreditaufnahme der EU-Länder

Das Ganze nur für 2020, in 2021 muss neu gerechnet werden.

750 Mrd davon über die neue EU-Schuldenaufnahme, über ein paar Jahre verteilt, ist dann keine grosse Zahl mehr, dementsprechend ist es nicht unwahrscheinlich, dass da noch etwas nachkommen wird, spätestens in 2021.

Das sind die Summen, mit denen gerechnet werden muss.

Dass die EU als unbelasteter Neuschuldner ihr beträchtliches Verschuldungspotential noch ausschöpfen wird, anstatt lieber heute als morgen unterzugehen, ist im DGF doch wohlbekannt, und ebenso logisch, wie die Tatsache, dass sich 99,999% der Bevölkerung nicht heute schon umbringen, obwohl sie doch morgen sowieso sterben werden.

Gruss,
mp

Zustimmung

Revoluzzer @, Mittwoch, 22.07.2020, 17:25 vor 1345 Tagen @ Miesepeter 1362 Views

... in allen Punkten, nur der Geldbedarf zur Systemerhaltung wird m.E. noch deutlich höher liegen, da die Ausfälle Folgeausfälle nach sich ziehen (Arbeitslose kaufen weniger als Erwerbstätige usw.).

Der Rückgang der Steuereinnahmen dürfte in D eher bei 20%, EU-weit bei 30% liegen als bei 10%.

Und richtig: Interessant wird es 2021, 2022 wenn sich zeigt, dass die Verschuldungspirale - egal ob über EU, die EZB oder die Nationalstaaten - den realwirtschaftlichen Verfall nicht stabilisieren kann. Dann wird sich die Vertrauensfrage in die Staaten stellen.

Revo.

Danke! Eine Frage zu Punkt 4

Andudu, Mittwoch, 22.07.2020, 15:55 vor 1345 Tagen @ Revoluzzer 1538 Views

">Zum einen wird die Schuldenaufnahme durch eine drastische Erhöhung der sogenannten Eigenmittel der EU von derzeit 1,06% auf in Summe bis zu 2,06% des Bruttonationaleinkommens ERMÖGLICHT - zugleich aber nicht gesagt, dass diese Mittel auch abgerufen werden. Die 2,06% werden im übrigen nicht als solche ausgesprochen, sondern verteilt auf 1,46% für den Mehrjährigen Finanzrahmen und 0,6% als - einfach gesprochen - abrufbare Sicherheit für die Schuldenaufnahme."

Mir fehlt irgendwie das Vorwissen, um die Aussage zu verstehen. Was sind die "Eigenmittel der EU" und inwiefern ermöglichen die die Schuldenaufnahme. Ist das so eine Art Eigenkapital? Und vom wem wird das aufgestockt, von den Mitgliedsstaaten?

Inwiefern spielt das eine Rolle, ob die abgerufen werden, müssten die normalerweise irgendwo hinterlegt werden?

Gute Fragen

Revoluzzer @, Mittwoch, 22.07.2020, 17:18 vor 1345 Tagen @ Andudu 1349 Views

bearbeitet von Revoluzzer, Mittwoch, 22.07.2020, 17:28

Das ganze Konstrukt EU ist notorisch undurchsichtig - insofern verständliche Fragen.

1. Was sind die "Eigenmittel der EU"
Das ist EU-Sprech für den EU-Anspruch auf Steuereinnahmen. "EU-Steuer" wäre ein ehrlicherer Begriff. Unser Geld, das den Brüsseler Zirkus finanziert.

2. Inwiefern ermöglichen die die Schuldenaufnahme
Den 750 Mrd. Schulden, die aufgenommen werden sollen, muss eine Sicherheit gegenüberstehen, die die Rückzahlung garantiert. Die normalen Steuern der EU - also die bis zu 1,46% des Bruttonationaleinkommens (BNE) sind für Ausgaben verplant. Die können nicht im erforderlichen Maße als Sicherheit dienen. Also wurde eine "potenzielle Steuerpflicht" geschaffen in Höhe von 0,6% des Bruttonationaleinkommens. Diese 0,6% finanzieren eine eventuelle Rückzahlung der Schulden und, nehme ich an, die Zinsen. 0,6% des BNE hört sich übrigens nach nicht viel an, ist aber real wahnsinnig viel, da die Bemessungsgrundlage quasi das gesamte volkswirtschaftliche Einkommen darstellt.

Wenn aber die EU bald richtig viel explizit eigene Steuereinnahmen hat, dann braucht die EU nicht auf diese 0,6% zurückgreifen - was dann natürlich in ein paar Jahren für die nationalen Politiker ein sehr guter Grund sein wird, um noch nachdrücklicher für diese expliziten EU-Steuern zu sein.

Für den Bürger ist das alles völlig egal. Er muss so oder so zahlen. Ihm bleibt immer weniger. Das Ganze ist nur Finanzalchemie zum Verschleiern und Verkaufen durch die Pressebücklinge.

Revo.

0,6% vom BNE/EU = 84 Mrd €

Miesepeter @, Mittwoch, 22.07.2020, 17:28 vor 1345 Tagen @ Revoluzzer 1484 Views

Den 750 Mrd. Schulden, die aufgenommen werden sollen, muss eine Sicherheit gegenüberstehen, die die Rückzahlung garantiert. Die normalen Steuern der EU - also die bis zu 1,46% des Bruttonationaleinkommens (BNE) sind für Ausgaben verplant. Die können nicht im erforderlichen Maße als Sicherheit dienen. Also wurde eine "potenzielle Steuerpflicht" geschaffen in Höhe von 0,6% des Bruttonationaleinkommens. Diese 0,6% finanzieren eine eventuelle Rückzahlung der Schulden und, nehme ich an, die Zinsen. 0,6% des BNE hört sich übrigens nach nicht viel an, ist aber real wahnsinnig viel, da die Bemessungsgrundlage quasi das gesamte volkswirtschaftliche Einkommen darstellt.

Bei Zinsen von 1% könnten damit Schulden i.H.v. 8,4 Billionen € bedient werden.

Gruss,
mp

Kein Cent Einsparung durch den Brexit

PPQ ⌂ @, Pasewalk, Donnerstag, 23.07.2020, 09:18 vor 1345 Tagen @ Revoluzzer 1112 Views

bearbeitet von PPQ, Donnerstag, 23.07.2020, 09:22

Die EU hat nach dem Brexit nur noch 27 Mitglieder, sie hat auch nicht mehr 500 Millionen Bürger, sondern nur noch 440 Millionen. Bezeichnend aber, dass der neue Haushalt um keinen Cent unter dem vorherigen Volumen liegt, im Gegenteil, er ist sogar noch größer geworden. Eine kleinere EU mit weniger Einzahlern leistet sich eine größere Verwaltung - genau drei Milliarden lässt sie sich die mehr kosten.

Wer zahlt, ist auch klar. Ja, es konnte ein generöser Spender gefunden werden.

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Wir sprechen verschiedene Sprachen. Meinen aber etwas völlig anderes. www.politplatschquatsch.com

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