Ich nehme an, Du bist kein Jurist - "Normative Kraft des Faktischen"

Literaturhinweis, Sonntag, 16.04.2017, 15:51 (vor 2781 Tagen) @ FOX-NEWS6182 Views
bearbeitet von unbekannt, Sonntag, 16.04.2017, 16:08

Ich hatte mich ja schon mal zum Thema juristische Hermeneutik verbreitet.

Was ist denn ein Rechtsbruch?

Warum mußte für das "Entwenden elektrischer Energie" ein neuer Paragraph im Strafgesetzbuch eingeführt werden, warum hätte der Diebstahlparagraph nicht gereicht (wie eine Mehrzahl der Juristen damals dachte, vgl. Ausland)?

Tatsache ist:

a) Es wurden an ca. eine halbe Million wahlberechtigte Auslandsfranzosen je ZWEI Wahlscheine verschickt.

b) Das Innenministerium weigert sich, sicherlich, weil es sich im Recht wähnt, die Wahl abzubrechen und erst dann erneut anzusetzen, wenn neue "einzigartige" Wahlscheine für einen neuen Wahltermin verschickt worden wären.

Im Gegenteil hoffen sie auf die Abschreckung der Strafandrohung, die "verbietet" zweimal zu wählen. Dazu unten nochmal.

Daraus folgt:

c) JEDER, der zwei solche "gültigen" Wahlscheine hat, kann zwei gültige Stimmen abgeben.

d) Zwar kann man im Nachhinein die Doppel-Wähler bestrafen (wohl, weil man am Briefwahl-Außenumschlag erkennen kann, wer eine Stimme überhaupt abgegeben hat), aber: damit werden deren Stimmen ja nicht ungültig, denn dazu müßte man wissen, wie derjenige gewählt hat (und das dann abziehen), was dann aber keine geheime Wahl gewesen wäre. Also wird man das nicht können. Folglich werden zwar Doppel-Wähler u.U. bestraft, aber ihr doppeltes Stimmgewicht bliebe erhalten.

Das hat mittels der normativen Kraft des Faktischen ein neues Wahlrecht geschaffen.

Nun könnte man theoretisch argumentieren, "wir warten erstmal ab, ob diese Auslandsstimmen denn überhaupt den Ausschlag gegeben hätten".

Aber wie will man das wissen? Was, wenn sämtliche Trends, Hochrechnungen und Auslands-Wählebefragungen ein undurschichtiges Bild ergaben? Was, wenn einer statt doppelt für einen Kandidaten zu stimmen, er seine Stimmen aufgeteilt hat, etwa in der Hoffnung, daß seine beiden Favoriten dadurch in die Stichwahl kommen, und er danach (im zweiten Wahlgang) seinen eigentlichen Favoriten wählen kann, während er sonst befürchtet, daß ein anderer Kandidat gegen seinen Favoriten anträte, und dieser dann -von anderen Wählern- die Mehrheit der Stimmen im zweiten Wahlgang bekäme?

Es ist offensichtlich, daß man die Wahl nicht ohne Abbruch weiterlaufen lassen kann, ohne eine von zwei Ansichten zu vertreten (und der Innenminister hat einen hochkartigen juristischen Stab):

1) Entweder das bisherige Wahlrecht sah das schon so vor

oder

2) es erlaubt eine solche Interpretation im Sinne einer Weiterentwicklung des Rechts.

Da 1) kaum ein Jurist guten Gewissens vertreten wird, da man aufgrund des Grundsatzes der "gleichen" Wahl ansonsten vorher schon das Wahlgesetz geändert hätte, um das auszuschließen, bleibt nur 2) übrig, sonst hätte das für die Wahlen zuständige Gremium die Wahlen abgebrochen.

Faktisch liegt eine Situation vor, wie bei einem nachträglichen höchstrichterlichen Entscheid, der ebenfalls -oft überraschende- Rechtsänderungen mit sich bringt.

Somit ist das eine Wahlrechtsänderung. Da alle halbwegs aussichtsreichen Kandidaten betroffen sind, scheint sich hier ein breiter Konsens anzubahnen. (Die Argumentation, LePen sei einseitig benachteiligt, weil Auslandsfranzosen an der EU eher festhielten, wegen der Aufenthaltsfragen, halte ich ebenfalls für nicht schlüssig, denn umgekehrt kehren viele Frankreich seit Jahrzehnten den Rücken, etwa, um in Großbritannien zu arbeiten oder sich selbständig zu machen, gerade weil sie die bisherigen staatssozialistischen Politiken eines Sarkozy oder Hollande nicht ab können.)

Oder wir sehen in den nächsten Tagen den Versuch solcher Kandidaten, per einstweiliger Anordnung die Wahl zu stoppen.

Solange hier nichts geschieht, ist das französische Wahlrecht geändert: es erlaubt jetzt auch zwei Stimmen pro Wahlberechtigtem.

Da im Übrigen die Wähler sich auf Verbotsirrtum berufen können, wird auch aus der Bestrafung nichts, die aber, wie beschrieben, am nach alter Lesart falschen Wahlergebnis ja nichts ändern könnte. Verbotsirrtum halte ich deshalb für eine -beim ersten Mal- durchschlagende Verteidigung, da das Verbot der Doppelabstimmung sicher schützen soll vor dem Erschleichen einer Zweitstimme, nicht aber für den Wähler klar sein muß, daß er einen offiziellen Wahlumschlag mit Behördenaufdruck, der zwei Wahlscheine enthält, nicht ernst nehmen darf.

Nach meiner Wertung darf in einem so gravierenden Fall - 500.000 Stimmzettel doppelt - man nicht weitermachen. Tut man es dennoch, hat man das Wahlrecht in diesem Punkte erfolgreich geändert.

--
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